»Sag mir, zu wem du gehörst, Alice? Für jetzt und alle Zeit«, fordere ich rau, denn alles in mir benötigt diese Antwort. Ich muss wissen, dass sie mein ist. Ein animalischer Teil in mir lechzt danach, dass ihre schönen Lippen es aussprechen.
»Zu dir, ich gehöre dir«, haucht sie. Schon brauche ich keine Aufforderung mehr, sondern versenke mich mit einem Stoß in ihr.
Alice
Crispin lehnt am Stamm eines großen Baumes, dessen Krone weit in den Himmel über uns ragt. Ich sitze vor ihm, mein Rücken an seine Brust gebettet. Seine Wärme geht auf mich über und ich kuschle mich enger an ihn, während er seinen Umhang über uns ausbreitet. Ein Gefühl von Sicherheit und Heimat überkommt mich, lässt mich selig seufzen. Wir schauen auf das Wasser des Flusses, hören seinem Rauschen zu und sehen die Sterne, die sich darin spiegeln. Einen Moment der Ruhe, ein gestohlener Augenblick, nur für uns – die Illusion, dass alles friedlich ist. Um uns herum hören wir die ersten Tiere der Nacht, die langsam erwachen und auf Jagd gehen. Es raschelt im Wald, gelegentlich ertönt ein Quieken oder Brummen, doch ich habe keine Angst, wenn ich bei Crispin bin. Ein Urvertrauen, wie ich es nie zuvor verspürt habe, hat sich in mir verfestigt. Er würde eher sterben, als zuzulassen, dass mir etwas geschieht. Wenn ich mich auf etwas verlassen kann, dann auf ihn. Ein schönes Gefühl. Müdigkeit macht sich in mir breit. Zum ersten Mal seit langer Zeit wagt mein Körper es, sich zu entspannen, was nur an seiner Nähe liegt. All das Erlebte fordert langsam seinen Tribut.
Crispin streicht in kleinen Kreisen über meinen Arm, während sein Kinn auf meinem Scheitel ruht. Die friedliche Stimmung hat ihn ebenso erfasst wie mich. Solche Augenblicke haben wir selten. Leider. Er genießt die Zweisamkeit, die uns zu lange verwehrt worden ist. Ich wünsche mir, dass es immer so sein könnte wie jetzt, so idyllisch. Wir beide, keine Kämpfe, kein Krieg. Keine Sorgen um das Morgen. Nur er und ich und unsere Liebe. Ich wage den Gedanken, wie es wäre, wenn er in meiner alten Welt leben würde. Wir würden vielleicht ein Haus kaufen, die Welt bereisen und Konzerte besuchen, ehe wir Kinder bekommen und eine Familie gründen würden. Crispin im Anzug, die Vorstellung lässt mich lächeln. Oder in Lederjacke mit dicken Boots an den Füßen. Er würde die Frauen verrückt machen, egal in welcher Welt.
»Schlaf ein wenig, kleiner Schmetterling.« Seine Stimme klingt ebenfalls schwer vor Müdigkeit, doch ich weiß, dass er kein Auge zumachen wird. »Morgen suchen wir Cian und Noam. Dann geht unsere Reise weiter. Wenn wir sie nicht finden, schlagen wir uns alleine durch. Wir bewältigen die Strapazen, wie immer. Dies ist erst der Anfang. Es kommen noch schwere Zeiten auf uns zu. Ich wünschte, es wäre nicht so, doch leider sieht die Realität anders aus.«
»Was ist passiert, als ich fortgewesen bin?«, frage ich leise. Jetzt, wo wir endlich einen Augenblick haben, um reden zu können, nicht weglaufen müssen, traue ich mich, diese Frage zu stellen. Was ist in meiner Abwesenheit geschehen? Geht es allen gut? Er seufzt laut auf, aber beginnt zu erzählen, während ich aufmerksam seiner Stimme lausche, meine Augen jedoch immer wieder zufallen. Obwohl ich nicht einschlafen will, übernimmt mein Körper das Kommando. Er holt sich, was er benötigt. Schlaf. Alles, was er berichtet, klingt noch verrückter als das, was ich schon erlebt habe. Diese Welt verblüfft mich stets aufs Neue – im positivem wie negativem Sinne. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Grinsekatze vom Baum über uns hinabblicken würde und kuckuck ruft. Rankenwesen? Yetis? Verfluchte Axt, das soll ich auch noch glauben? Was kommt als Nächstes? Aliens? Mister Spock? Obwohl, der wäre gar nicht so verkehrt. Vielleicht könnte er uns rüber in meine Zeit beamen. Zack, alle Sorgen dahin.
Crispin soll der König werden, der alle Völker vereint? König. Es schaudert mich bei dem Gedanken. Was für eine Verantwortung. Sie macht mir schreckliche Angst. Allerdings … Jetzt, wo ich dem Geschehen zuhorche, habe ich nie etwas gehört, was mehr Sinn ergibt. Crispin ist der geborene Anführer, ein perfekter Herrscher. Wie oft habe ich ihn genau deswegen bewundert, für seine Führungsqualitäten, seinem eisernen Willen und seinem guten Herzen, welches er zu verstecken versucht. Die Götter haben klug gewählt. Er ist edel und großherzig, auch wenn er es leugnen würde. Doch weiß ich nicht, was in ihm vorgeht, was er fühlt oder denkt. Er nimmt es einfach hin, dass er dafür geboren sein soll. Das bereitet mir Sorgen. Macht es ihm gleichermaßen Angst wie mir? Ich spüre, dass er nicht weiter darüber reden möchte, noch nicht. Er ist kein Mann der großen Worte, eher einer der Taten. Wie gewaltig muss das Wissen, dass all dies vor unserer Geburt geplant worden ist, für ihn sein? Unsere Pläne haben ganz anderes ausgesehen. Wir haben fortgehen wollen, ein Leben in Frieden und Ruhe genießen – ein Platz für uns und unsere Freunde, ohne all das. Doch jetzt? Wir haben anscheinend keine Wahl und müssen dies durchstehen.
Ich sehne mich nach den leichten Tagen, an denen wir ohne Sorgen lachen können. Für mich ist alles so fremd, so unglaublich andersartig. Prophezeiungen, unsere Verbindung, dass wir füreinander bestimmt sind, Rituale, Götter, Kriege … Es klingt wie eine Folge aus X-Faktor: das Unfassbare. Crispin soll also Fegoria regieren. Bin ich bereit, für so viel Verantwortung? Wie soll ich ihm helfen, wo ich eine völlig Fremde in diesem Land bin? Ich weiß nicht mal ansatzweise, wie es hier funktioniert. Ach, was rede ich, ich weiß nicht mal, welche Wesen mir hier begegnen könnten oder wie lang ein Jahr ist. Ebenso die Mythen und Sagen … Sie sind nicht die meinen. Ich muss noch so vieles lernen und es ist nur so wenig Zeit. Ich kann ihm alle Eissorten von Ben & Jerrys aufzählen, aber ich bezweifle, dass uns das hier etwas nützt.
»Hier ist alles so schwer, ich habe das Gefühl, immer auf der Hut sein zu müssen. Niemand ist das, was er zu sein scheint. Es ist zu einfach für Asta und Castiell gewesen, mich zu bekommen, dann umzupolen. Was, wenn du oder jemand, den wir lieben, meinetwegen verletzt wird? Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie hier aufgetaucht oder wirklich gestorben. All das, was auf uns zukommt, macht mir Angst, Crispin. Ja, richtig große Angst sogar. Ich bin keine echte Kriegerin, so gerne ich es auch wäre, bin ich nur ein einfacher Mensch, der gerne Schokolade isst, gute Bücher liest und Netflix schaut. Ich bin schwach. Viel zu schwach für Fegoria und seine Tücken. Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich habe noch so viel zu lernen.«
Crispin hält mit dem Streicheln inne, nimmt meine schmale in seine große Hand. Seine Finger sind nicht weich, eher rau vom Leben hier – sie erzählen ihre eigene Geschichte. »Bist du nicht! Du bist kein Mensch mehr, Alice. Es wird Zeit, dass du das begreifst und akzeptierst. Du schwächst dich selbst. Nichts an dir ist menschlich, nicht mal dein weiches Herz. Versteh mich nicht falsch. Du bist weder schwach noch alleine. Du hast hier ein neues Leben. Ich vermag nur zu ahnen, wie schwer es für dich sein muss. Ich