Diotima verbesserte allerdings in der Folge ihre Stellung wieder durch ihren Eigensinn. Sie war sanft ausfällig geworden und hatte von einer neuen Art Menschen erzählt, welche die geistige Verantwortung für den Weltlauf nicht mehr untätig den Berufslenkern überlassen könne. Dann hatte sie vom Takt der Frau gesprochen, der zuweilen eine Sehergabe sein könne und den Blick möglicherweise in weitere Fernen lenke als die tägliche Berufsarbeit. Schließlich sagte sie, Arnheim Sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist, die Leitung der Staatsgeschäfte in Europa geschehe zu wenig europäisch und viel zu ungeistig, und die Welt werde nicht Frieden finden, ehe ein weltösterreichischer Geist sie so durchwehe, wie die alte österreichische Kultur sich um die verschiedensprachigen Stämme auf dem Boden der Monarchie schlinge. – Sie hatte noch nie sich so entschieden der Überlegenheit ihres Mannes entgegenzusetzen gewagt, aber Sektionschef Tuzzi wurde dadurch vorübergehend wieder beruhigt, denn er hatte die Bestrebungen seiner Gattin nie für wichtiger als Schneiderfragen angesehn, war glücklich, wenn andere sie bewunderten, und betrachtete nun auch diese Angelegenheit milder und ungefähr so, wie wenn eine farbenfreudige Frau einmal ein zu buntes Band ausgewählt hätte. Er beschränkte sich darauf, ihr mit ernster Höflichkeit die Gründe zu wiederholen, die es in der Männerwelt ausgeschlossen erscheinen ließen, einem Preußen vor aller Augen die Entscheidung österreichischer Angelegenheiten anzuvertraun, räumte aber im übrigen ein, daß es Vorteile bieten möge, sich mit einem Mann in so eigenartiger Stellung zu befreunden, und versicherte Diotima, daß sie seine Bedenken mißdeuten würde, wenn sie aus ihnen schließen wollte, daß es ihm nicht angenehm sei, Arnheim so oft wie möglich in ihrer Gesellschaft zu sehn. Er hoffte bei sich, daß sich auf diesem Wege die Gelegenheit, dem Fremden eine Falle zu stellen, schon finden werde.
Erst als Tuzzi mitansehen mußte, wie Arnheim überall Erfolg hatte, kam er wieder darauf zurück, daß Diotima sich allzu engagiert mit diesem Manne zeige, aber er erfuhr nun abermals, daß sie seinen Willen nicht wie sonst achtete, ihm widersprach und seine Besorgnisse für Hirngespinste erklärte. Er beschloß, als Mann nicht gegen die Dialektik einer Frau zu streiten, sondern die Stunde abzuwarten, wo seine Voraussicht von selbst triumphieren werde; da ereignete es sich jedoch, daß er einen gewaltigen Antrieb erhielt. Denn eines Nachts beunruhigte ihn etwas, das ihm wie ein unendlich fernes Weinen vorkam; es störte ihn anfangs kaum, er begriff es einfach nicht, aber von Zeit zu Zeit verringerte sich die seelische Entfernung um einen Sprung, und mit einemmal war die bedrohliche Unruhe dicht an seinen Ohren, und er fuhr so jäh aus dem Schlaf, daß er sich im Bett aufsetzte. Diotima lag zur Seite gewandt und gab kein Zeichen, aber er fühlte an irgendetwas, daß sie wache. Er rief sie leise beim Namen, wiederholte diese Frage und versuchte mit zärtlichen Fingern ihre weiße Schulter zu sich zu drehn. Aber wie er drehte, und ihr Gesicht im Dunkel über der Schulter aufging, sah es ihn böse an, drückte Trotz aus und hatte geweint. Leider hatte sein fester Schlaf Tuzzi inzwischen wieder halb überwältigt, zog ihn eigensinnig von hinten zurück zu den Polstern, und Diotimas Gesicht schwebte nur noch wie eine schmerzende helle Verzerrung vor ihm, die er in keiner Weise mehr begriff. «Was ist denn?» brummte er im leisen Baß des Einschlafens und erhielt eine klare, gereizte, unangenehme Antwort ins Ohr geprägt, die in seine Schlaftrunkenheit fiel und darin liegen blieb wie eine blinkende Münze im Wasser. «Du schläfst so unruhig, daß niemand neben dir schlafen kann!» hatte Diotima hart und deutlich gesagt; sein Ohr hatte es aufgenommen, aber damit war Tuzzi vom Wachen auch schon abgeschieden, ohne auf den Vorwurf weiter eingehen zu können.
Er fühlte bloß, daß ihm schweres Unrecht geschehen sei. Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs. Man durfte ihn da nicht antasten, und er empfand sich durch Diotimas Bemerkung ernstlich in Frage gestellt. Er begriff, daß Veränderungen mit ihr vorgegangen seien. Es fiel ihm zwar nicht einmal im Schlaf ein, seine Frau greifbarer Untreue zu verdächtigen, dennoch stand es keinen Augenblick in Zweifel für ihn, daß das persönliche Unbehagen, das ihm zugefügt worden, mit Arnheim Zusammenhängen müsse. Er schlief sozusagen zornig bis zum Morgen durch und wachte mit dem festen Entschluß auf, um diese störende Person Klarheit zu schaffen.
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Das Haus Fischel
Direktor Fischel von der Lloyd-Bank war jener Bankdirektor, oder richtiger gesagt Bankprokurist mit dem Titel Direktor, der eine Einladung des Grafen Leinsdorf aus zunächst unbegreiflichen Gründen zu beantworten vergessen hatte und danach nicht wieder eingeladen wurde. Und auch jene erste Aufforderung hatte er nur den Beziehungen seiner Gattin Klementine verdankt. Klementine Fischel stammte aus einer alten Beamtenfamilie, ihr Vater war Präsident des Obersten Rechnungshofes gewesen, ihr Großvater Kameralrat, und drei ihrer Brüder nahmen hohe Stellungen in verschiedenen Ministerien ein. Sie hatte vor vierundzwanzig Jahren Leo aus zwei Gründen geheiratet; erstens weil hohe Beamtenfamilien manchmal mehr Kinder als Vermögen besitzen, zweitens aber auch aus Romantik, weil ihr im Gegensatz zu der peinlich sparsamen Begrenztheit ihres Elternhauses das Bankwesen als ein freigeistiger, zeitgemäßer Beruf erschienen war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen Menschen nicht danach beurteilt, ob er Jude oder Katholik ist; ja, wie es damals war, empfand sie nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich über das naive antisemitische Vorurteil des gewöhnlichen Volks hinwegzusetzen.
Die Arme mußte später erleben, daß in ganz Europa ein Geist des Nationalismus emporkam und mit ihm auch eine Welle der Judenangriffe hochstieg, die ihren Mann sozusagen in ihren Armen aus einem geachteten Freigeist in den Ätzgeist eines bodenfremden Abstämmlings verwandelte. Anfangs hatte sie sich dagegen mit dem ganzen Ingrimm eines «groß denkenden Herzens» aufgelehnt, aber mit den Jahren wurde sie von der naiv grausamen, immer weiter um sich greifenden Feindseligkeit zermürbt und von dem allgemeinen Vorurteil eingeschüchtert. Ja, sie mußte es sogar erleben, daß sie vor sich selbst bei den Gegensätzen, die sich zwischen ihr und ihrem Mann allmählich immer heftiger auftaten, – als er aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben wollte, über die Stufe eines Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdirektor zu werden – manches, was sie verletzte, achselzuckend damit erklärte, daß Leos Charakter eben doch dem ihren fremd sei, wenn sie auch gegen Außenstehende die Grundsätze ihrer Jugend niemals preisgab.
Diese Gegensätze bestanden freilich im Grunde aus nichts anderem als dem Mangel an Übereinstimmung; wie in vielen Ehen ein sozusagen natürliches Unglück an die Oberfläche kommt, sobald sie aufhören, verblendet glücklich zu sein. Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigenheiten damit zu entschuldigen, daß er eben nicht in einem spiegelstillen alten Ministerialbüro, sondern am «sausenden Webstuhl der Zeit» sitze, und wer weiß, ob sie ihn nicht gerade wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte?! Sein ausrasierter Backenbart, der sie seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronenden Kneifer an einen englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler, und einzelne Angewohnheiten in Gebärde und Redeweise begannen ihr geradezu unerträglich zu werden. Klementine versuchte anfangs, ihren Gatten zu verbessern, aber sie stieß dabei auf außergewöhnliche Schwierigkeiten, denn es zeigte sich, daß nirgends in der Welt ein Maß dafür vorhanden ist, ob ein Backenbart rechtmäßig an einen Lord oder an einen Makler erinnert und ein Kneifer einen Platz auf der Nase hat, der zusammen mit einer Handbewegung Enthusiasmus oder Zynismus ausdrückt. Außerdem war aber Leo Fischel auch gar nicht der Mann, der sich hätte verbessern lassen. Er erklärte die Bemängelungen, die das christlich-germanische Schönheitsideal eines Ministerialrats aus ihm machen wollten, für gesellschaftliche Faxen und lehnte ihre Erörterung als eines vernünftigen Mannes unwürdig ab, denn je mehr seine Gattin an Einzelheiten Anstoß nahm, desto mehr betonte er die großen Richtlinien der Vernunft. Dadurch verwandelte sich das Haus