Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726539264
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mochte Arnheim nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich. Er war überzeugt, daß Arnheim schon am Abend vorher alles darauf angelegt hatte, um am Morgen zu dieser Sitzung weder als erster noch als letzter einzutreffen; aber daß er trotzdem bestimmt, ehe er aufbrach, nicht nach der Uhr gesehen hatte, sondern vielleicht zum letztenmal, bevor er sich zum Frühstück niedersetzte und den Vortrag seines Sekretärs empfing, der ihm die Post überreichte: da hatte er die Zeit, die zur Verfügung stand, in die innere Tätigkeit verwandelt, die er bis zum Aufbruch leisten wollte, und wenn er sich dieser Tätigkeit dann mit Unbefangenheit überließ, war er sicher, daß sie genau die Zeit ausfüllen werde, denn das Richtige und seine Zeit hängen durch geheimnisvolle Kraft zusammen wie eine Plastik und der Raum, in den sie gehört, oder ein Speerschütze und das Ziel, das er trifft, ohne hinzusehen. Ulrich hatte schon viel von Arnheim gehört und manches gelesen. In einem seiner Bücher stand, daß ein Mann, der seinen Anzug im Spiegel überwache, zu einer ungebrochenen Handlungsweise nicht fähig sei. Denn der Spiegel, ursprünglich zur Freude geschaffen, so führte er aus, sei zu einem Instrument der Angst geworden, wie die Uhr, die ein Ersatz dafür ist, daß unsere Tätigkeiten sich nicht mehr natürlich ablösen.

      Ulrich mußte sich ablenken, um nicht ungezogen auf die benachbarte Gruppe zu starren, und seine Augen blieben auf dem kleinen Stubenmädchen ruhen, das zwischen den plaudernden Gruppen hindurchstrich und mit ehrfürchtigem Augenaufschlag Erfrischungen anbot. Aber die kleine Rachel bemerkte ihn nicht; sie hatte ihn vergessen und verabsäumte sogar, mit ihrem Brett zu ihm zu kommen. Sie hatte sich Arnheim genähert und bot ihm ihre Erfrischungen an wie einem Gott; sie hätte ihm am liebsten die kurze, ruhige Hand geküßt, als diese nach der Limonade griff und das Glas zerstreut festhielt, ohne daß der Nabob trank. Nachdem dieser Höhepunkt überschritten war, tat sie ihre Pflicht wie ein verwirrter kleiner Automat und strebte schleunigst aus dem Zimmer der Weltgeschichte, wo alles voll Beinen und Gespräch war, wieder ins Vorzimmer hinaus.

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      Fortgang und Schluß der großen Sitzung Ulrich findet an Rachel Wohlgefallen Rachel an Soliman Die Parallelaktion erhält eine feste Organisation

      Ulrich liebte diese Art Mädchen, die ehrgeizig sind, sich gut benehmen und in ihrer wohlerzogenen Einschüchterung Fruchtbäumchen gleichen, deren süße Reife eines Tages einem jungen Schlaraffenkavalier in den Mund fällt, wenn er geruht, die Lippen zu öffnen. «Sie müssen tapfer und abgehärtet sein wie die Steinzeitweiber, die nachts das Lager teilten und tagsüber auf den Märschen Waffen und Hausrat ihres Kriegers trugen» dachte er, obwohl er selbst, außer im fernen ersten Voralter der erwachenden Männlichkeit, niemals auf solchem Kriegspfad gewandelt war. Seufzend nahm er Platz, denn die Beratung hatte wieder begonnen.

      In der Erinnerung fiel ihm auf, daß das schwarz-weiße Ornat, in das man diese Mädchen steckt, die gleichen Farben habe wie das der Nonnen; er bemerkte es zum erstenmal, und er wunderte sich darüber. Aber da sprach schon die göttliche Diotima und erklärte: Die Parallelaktion müsse in einem großen Zeichen gipfeln. Das heiße, sie könne nicht jedes beliebige weithin sichtbare Ziel haben, und wenn es noch so patriotisch wäre. Sondern dieses Ziel müsse das Herz der Welt ergreifen. Es dürfe nicht nur praktisch, es müsse eine Dichtung sein. Es müsse ein Markstein sein. Es müsse ein Spiegel sein, in den die Welt blicke und erröte. Nicht nur erröte, sondern wie im Märchen ihr wahres Antlitz erschaut habe unsd nicht mehr vergesen könne. Se. Erlaucht habe dafür die Anregung «Friedenskaiser» gegeben.

      Dies vorausgeschickt, lasse sich nicht verkennen, daß die bisher erörterten Vorschläge dem nicht entsprächen. Wenn sie im ersten Teile der Sitzung Symbole gesagt habe, so meine sie natürlich nicht Suppenanstalten, sondern es handle sich um nichts Geringeres, als jene menschliche Einheit wiederzufinden, welche durch die so sehr verschieden gewordenen menschlichen Interessen verlorengegangen sei. Da dränge sich freilich die Frage auf, ob die gegenwärtige Zeit und die Völker von heute überhaupt solcher ganz großer gemeinsamer Ideen noch fähig seien? Alles sei ja vortrefflich, was vorgeschlagen worden, aber es gehe weit auseinander, worin sich schon zeige, daß keiner dieser Vorschläge die vereinheitlichende Kraft besitze, auf die es ankomme!

      Ulrich beobachtete Arnheim, während Diotima sprach. Aber es waren nicht Einzelheiten der Physiognomie, woran sein Unwille hängen blieb, sondern das Gänze schlechtweg. Obgleich diese Einzelheiten – der phönikisch harte Herrenkaufmannsschädel, das scharfe, aber wie aus etwas zu wenig Material und darum flach gebildete Gesicht, die englische Herrenschneiderruhe der Figur, und an der zweiten Stelle, wo der Mensch aus dem Anzug hervorsieht, die etwas zu kurzfingrigen Hände – genügend bemerkenswert waren. Das gute Verhältnis, in dem alles zueinander stand, war es, was Ulrich reizte. Diese Sicherheit besaßen auch Arnheims Bücher; die Welt war in Ordnung, sobald sie Arnheim betrachtet hatte. In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Straßendreck nach diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufgewachsenen Menschen zu werfen, während er zusah, mit welcher Aufmerksamkeit der sich anstellte, um den albernen Vorgängen zu folgen, denen sie beiwohnen mußten; er trank sie förmlich wie ein Kenner, dessen Gesicht ausdrückt: ich will nicht zuviel sagen, aber das ist ganz edles Gewächs!

      Diotima war inzwischen zu Ende gekommen. Gleich nach der Pause, als sie sich wieder hingesetzt hatten, war allen Anwesenden anzusehen gewesen, daß sie überzeugt waren, nun werde ein Ergebnis gefunden werden. Keiner hatte inzwischen darüber nachgedacht, aber alle nahmen die Haltung ein, in der man etwas Wichtiges erwartet. Und nun schloß Diotima: – Wenn sich also die Frage aufdränge, ob die gegenwärtige Zeit und die heutigen Völker überhaupt noch ganz großer gemeinsamer Ideen fähig seien, so müsse und dürfe man hinzufügen: der erlösenden Kraft! Denn um eine Erlösung handle es sich. Um einen erlösenden Aufschwung. Kurz gesagt; wenn man sich ihn auch noch nicht genau vorstellen könne. Er müsse aus der Gesamtheit kommen oder er werde überhaupt nicht kommen. Deshalb erlaube sie sich, nach Rücksprache mit Sr. Erlaucht, folgenden, die heutige Sitzung abschließenden Vorschlag zu erstatten: Se. Erlaucht habe mit Recht bemerkt, daß eigentlich schon die hohen Ministerien eine Einteilung der Welt nach ihren Hauptgesichtspunkten wie Religion und Unterricht, Handel, Industrie, Recht und so weiter darstellen. Wenn man deshalb beschließen wolle, Ausschüsse einzusetzen, an deren Spitze je ein Beauftragter dieser Regierungsstellen stehe, und an seine Seite Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile wähle, so werde man einen Aufbau schaffen, Welcher die hauptsächlichen moralischen Kräfte der Welt schon geordnet enthalte, durch den sie einströmen und in dem sie gesiebt werden können. Die letzte Zusammenfassung würde dann im Hauptausschuß erfolgen, und dieser Bau müsse nur noch durch einige besondere Ausschüsse und Unterausschüsse wie ein Propagandakomitee, einen Ausschuß zur Beschaffung von Geldmitteln und dergleichen ergänzt werden, wobei sie sich persönlich die Gründung eines geistigen Ausschusses zur weiteren Bearbeitung der grundlegenden Ideen, natürlich im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen, Vorbehalten möchte.

      Wieder schwiegen alle, aber diesmal erleichtert. Graf Leinsdorf nickte mehrmals mit dem Kopf. Jemand fragte zur Ergänzung des Verständnisses, wie in die so gedachte Aktion das vornehmlich Österreichische hineinkommen werde?

      Zur Antwort erhob sich der General Stumm von Bordwehr, während alle Redner vor ihm sitzend gesprochen hatten. Er wisse wohl, – sagte er – dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angewiesen. Wenn er dennoch spreche, so geschehe es nicht, um sich in die unübertreffliche Kritik der bisher aufgetauchten Vorschläge zu mengen, die alle vortrefflich waren. Dennoch möchte er zum Schlusse folgenden Gedanken einer wohlwollenden Prüfung anheimstellen. Die geplante Kundgebung solle nach außen wirken. Was nach außen wirke, sei aber die Macht eines Volks. Auch sei die Lage in der europäischen Staatenfamilie derart, wie Se. Erlaucht gesagt habe, daß eine solche Kundgebung gewiß nicht zwecklos wäre. Der Gedanke des Staats sei nun einmal der der Macht, wie Treitschke sage; Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Er rühre nur an eine bekannte Wunde, wenn er an den unbefriedigenden Zustand erinnere, in dem sich durch die Teilnahmlosigkeit des Parlaments der Ausbau unserer Artillerie und jener der Marine befinde. Er gebe darum zu bedenken, wenn kein anderes Ziel gefunden werden sollte, was ja noch ausstehe, daß dann eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres und seiner