Es wäre schwer zu sagen gewesen, was Walter wirklich war. Er war ein angenehmer Mensch mit sprechenden, gehaltvollen Augen, noch heute, soviel stand fest, obgleich er das vierunddreißigste Jahr schon überschritten hatte, und seit einiger Zeit war er in irgendeinem Kunstamt angestellt. Sein Vater hatte ihm diese bequeme Beamtenstellung verschafft und die Drohung damit verknüpft, daß er ihm seine Geldunterstützung entziehen werde, wenn er sie nicht annehme. Denn eigentlich war Walter Maler; er hatte gleichzeitig mit dem Kunstgeschichtsstudium an der Universität in einer Malklasse der Staatsakademie gearbeitet und später eine Zeitlang in einem Atelier gewohnt. Auch als er mit Clarisse in dieses Haus unter dem freien Himmel gezogen war, er hatte sie kurz vorher geheiratet, war er Maler gewesen; aber jetzt, so schien es, war er wieder Musiker und im Laufseiner zehnjährigen Liebeszeit war er bald das eine, bald das andere gewesen, dazu noch Dichter, hatte eine literarische Zeitschrift herausgegeben, war, um heiraten zu können, Angestellter eines Bühnenvertriebs geworden, hatte nach wenigen Wochen auf seine Absicht verzichtet, war, um heiraten zu können, nach einiger Zeit Theaterkapellmeister geworden, hatte nach einem halben Jahr auch diese Unmöglichkeit durchschaut, war Zeichenlehrer, Musikkritiker, Einsiedler und manches andere gewesen, bis sein Vater und sein zukünftiger Schwiegervater trotz aller Weitherzigkeit das nicht mehr ertrugen. Solche älteren Leute pflegten zu behaupten, daß es ihm einfach an Willen fehle; aber da hätte man ebensogut behaupten können, daß er sein Leben lang nur ein vielseitiger Dilettant gewesen sei, und das Merkwürdige war doch gerade, daß sich immer auch Fachleute in der Musik, der Malerei oder dem Schrifttum gefunden hatten, die über Walters Zukunft begeisterte Urteile abgaben. In Ulrichs Leben, zum Gegenbeispiel, obgleich er einiges fertiggebracht hatte, dessen Wert sich nicht bestreiten ließ, hatte es sich niemals ereignet, daß ein Mensch zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: Sie sind der Mann, den ich immer gesucht habe und auf den meine Freunde warten! In Walters Leben war das alle Vierteljahr vorgekommen. Und wenn das auch nicht gerade die maßgeblichsten Beurteiler gewesen sind, so waren alle doch Leute, die über irgendeinen Einfluß, einen aussichtsreichen Vorschlag, begonnene Unternehmen, Stellungen, Freundschaften und Förderung verfügten, die sie dem von ihnen entdeckten Walter zur Verfügung stellten, dessen Leben gerade dadurch einen so reichen Zickzacklauf nehmen konnte. Irgendetwas schwebte über ihm, das mehr zu bedeuten schien als eine bestimmte Leistung. Vielleicht war das eine eigene Begabung, für eine große Begabung zu gelten. Und wenn das Dilettantismus sein sollte, dann beruht das Geistesleben der deutschen Nation zu einem großen Teil auf Dilettantismus, denn diese Begabung gibt es in allen Abstufungen, bis zu den wirklich sehr begabten Menschen hinauf, denn erst bei diesen dürfte sie allem Anschein nach gewöhnlich fehlen.
Und selbst die Begabung, das zu durchschauen, hatte Walter. Obgleich er natürlich wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als ein persönliches Verdienst zu glauben, hatte ihn doch sein Vorzug, daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit emporgehoben wurde, seit je wie ein beängstigendes Mindergewicht beunruhigt, und so oft er seine Tätigkeiten und menschlichen Verbindungen wechselte, geschah es nicht bloß aus Unbeständigkeit, sondern in großen inneren Anfechtungen und von einer Angst gehetzt, er müsse um der Reinheit des inneren Sinnes willen weiterwandern, ehe er dort Boden fasse, wo sich das Trügerische schon andeute. Sein Lebensweg war eine Kette von erschütternden Erlebnissen, aus denen der heroische Kampf einer Seele hervorging, die allen Halbheiten widerstand und keine Ahnung davon hatte, daß sie damit der eigenen diente. Denn während er um die Moral seines geistigen Tuns litt und kämpfte, wie es einem Genie zukommt, und den vollen Einsatz für seine Begabung erlegte, die nicht zu Großem genügte, hatte ihn sein Schicksal still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt. Er hatte endlich den Platz erreicht, wo ihn nichts mehr hinderte; der stille, zurückgezogene, gegen alle Unreinlichkeiten des Kunstmarkts geschützte Dienst in seiner halbgelehrten Stellung ließ ihm reichlich Unabhängigkeit und Zeit, um ganz seinem inneren Ruf zu lauschen, der Besitz der Geliebten nahm die Dornen von seinem Herz, das Haus «am Rande der Einsamkeit», das er mit ihr nach seiner Heirat bezog, war wie geschaffen zur Schöpfung: aber, als nichts mehr da war, was überwunden werden mußte, geschah das Unerwartete, die Werke, welche die Größe seiner Gesinnung so lange versprochen hatte, blieben aus. Walter schien nicht mehr arbeiten zu können; er verbarg und vernichtete; er sperrte sich jeden Morgen oder nachmittags, wenn er heimkam, stundenlang ein, machte stundenweite Spaziergänge mit dem geschlossenen Skizzenbuch, aber das wenige, was dabei entstand, hielt er zurück oder vernichtete es. Er hatte hundert verschiedene Gründe dafür. Im ganzen begannen sich aber auch seine Anschauungen in dieser Zeit auffallend zu verändern. Er sprach nicht mehr von «Zeitkunst» und «Zukunftskunst», Vorstellungen, die für Clarisse seit ihrem fünfzehnten Jahre mit ihm verbunden waren, sondern zog irgendwo einen Strich – in der Musik etwa bei Bach, in der Dichtung bei Stifter, in der Malerei bei Ingres abschließend – und erklärte, daß alles, was später gekommen sei, überladen, entartet, überspitzt und abwärtsgerichtet wäre; ja es geschah immer heftiger, daß er behauptete, in einer derart in ihren geistigen Wurzeln vergifteten Zeit, wie es die gegenwärtige sei, müsse sich eine reine Begabung der Schöpfung überhaupt enthalten. Aber das Verräterische war, obgleich solche strenge Meinung aus seinem Munde kam, daß aus seinem Zimmer, sobald er sich einsperrte, immer öfter die Klänge Wagners zu dringen begannen, das heißt einer Musik, die er Clarisse in früheren Jahren als das Musterbeispiel einer philiströs überladenen, entarteten Zeit verachten gelehrt hatte, der er aber jetzt selbst wie einem dick gebrauten, heißen, betäubenden Getränk erlag.
Clarisse wehrte sich dagegen. Sie haßte Wagner schon wegen seiner Samtjacke und seines Baretts. Sie war die Tochter eines Malers, dessen Bühnenentwürfe in der weiten Welt berühmt waren. Sie hatte ihre Kindheit in einem Reich von Kulissenluft und Farbengeruch verbracht, zwischen drei verschiedenen Kunstjargons, denen des Schauspiels, der Oper und des Malerateliers, umgeben von Samt, Teppichen, Genie, Pantherfellen, Bibelots, Pfauenwedeln, Truhen und Lauten. Sie verabscheute darum aus ihrer ganzen Seele alle Wollust der Kunst und fühlte sich zu allem Mager-Strengen hingezogen, ob es nun die Metageometrie der atonalen neuen Tondichtung war oder der enthäutete, wie ein Muskelpräparat klar gewordene Wille klassischer Formen. In ihre jungfräuliche Gefangenschaft hatte Walter die erste Botschaft davon gebracht. «Lichtprinz» hatte sie ihn genannt, und schon als sie ein Kind war, hatten Walter und sie einander zugeschworen, nicht zu heiraten, ehe er ein König geworden sei. Die Geschichte seiner Veränderungen und Unternehmungen war zugleich eine Geschichte unermeßlicher Leiden und Entzückungen, deren Kampfpreis sie gebildet hatte. Clarisse war nicht so begabt wie Walter, das hatte sie immer gefühlt. Aber sie hielt Genie für eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das Studium der Musik anzueignen gesucht; es war nicht unmöglich, daß sie überhaupt nicht musikalisch war, aber sie besaß zehn sehnige Klavierfinger und Entschlossenheit; sie übte tagelang und trieb ihre Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas übermächtig Schweres aus dem Grund reißen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die Malerei. Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein. Und als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstickende, langsame Veränderung in ihrer Lebensatmosphäre. Gerade da hätte nun Walter menschliche Wärme gebraucht; und er drängte, wenn ihn seine Ohnmacht quälte, zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich. Sie kam sich von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr einnisten wollte, und sie verweigerte sich. Sie verhöhnte die wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte. Es kann sein, daß das grausam war. Aber sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang mit dem Schicksal.
Ulrich hatte Clarisse eine Zigarette angeboten. Was hätte er noch sagen sollen, nachdem er so rücksichtslos gesagt hatte, was er dachte. Der Rauch ihrer Zigaretten, der den Strahlen der Abendsonne nachzog, vereinigte sich in einiger Entfernung von ihnen.
«Wieviel weiß Ulrich davon?» dachte Clarisse auf ihrem Erdhügel. «Ach, was könnte er überhaupt von solchen Kämpfen begreifen!» Sie erinnerte sich daran, wie Walters Gesicht zerfiel, schmerzhaft bis zur Nichtigkeit, wenn die Leiden der Musik und Sinnlichkeit ihn bedrängten und ihr Widerstand keinen Ausweg freigab; nein – nahm sie an – von diesem Ungeheuren eines Liebesspiels wie auf dem Himalaja, aufgebaut