Dem Geheimrat war die Kleine ein psychologisches Rätsel. Er hatte bisher nur die flinke, eifrige Arbeitsbiene in ihr gesehen und geschätzt. Sie war seiner Meinung nach in diesen fünf Monaten in den Angelegenheiten seines Hauses vollkommen aufgegangen. Dass sie daneben noch ein persönliches Leben führte, war ihm so wenig in den Sinn gekommen wie seiner Frau. Uebrigens hatte sie ihre Verlobung geflissentlich geheimgehalten. Wann hatte sie denn überhaupt Zeit gehabt, an sich und an ihre Zukunft zu denken? Von früh um sechs Uhr bis um Mitternacht war sie doch mit allen Fibern in ihrem wahrlich nicht leichten Dienste. Dass sie diese Unsumme von Pflichten in einem fremden Hause auf ihre Schultern geladen hatte — sie, die künftige Frau Viktor Troilo!
Allmählich hatte Katarina ihre innere Ruhe wiedergefunden. Sie wunderte sich selbst über den Mut, einem Fremden gegenüber all das auszusprechen, was sie sich bis jetzt selber nur ganz unklar und verworren eingestanden hatte. Vieles klärte und löste sich aber, indem sie sich ihm anvertraute. Es war so eine Wohltat, einmal das Buch des Lebens vor sich aufzuschlagen, sich Rechenschaft zu geben. An die Mutter hatte sie nur noch eine matte Erinnerung. Die Wirtschafterin später hatte ihr Tagwerk getan, mehr nicht. So war Katarina immer einsam gewesen, von Kindesbeinen an.
„Es ist schwer, Ihnen zu raten, liebes Kind,“ sagte der Geheimrat lächelnd, nachdem er mit ihr viele Punkte eingehend durchgesprochen hatte, „und ich will Ihnen auch gestehen, dass ich meinen ganzen Mannesmut zusammennehmen muss, wenn ich gerecht bleiben will.“
Mit ihren hellen, ängstlich irrenden Augen sah sie den grossen, starken Mann fragend an.
„Die erste, dringlichste Frage meiner Frau wird sein: Bleibt Fräulein Lutz oder bleibt sie nicht? Darin liegt ein berechtigter Egoismus — und die Dringlichkeit der Frage ist ein grosses Kompliment für Ihre Leistungen im Hause. Nun bedenken Sie aber ’mal den Eindruck, wenn ich erwidere: Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen Fräulein Lutz raten müssen, die Stellung bei uns aufzugeben, denn das ist sie der Zukunft ihres Verlobten unbedingt schuldig.“
Katarina holte tief Atem.
„Ich rate Ihnen aber nicht, jetzt schon nach Wiesbaden zurückzukehren, liebes Fräulein Lutz. Sie sind ein strebsamer Mensch, haben offene Sinne, Sie können draussen im Leben noch eine ganze Menge vorwärtsbringen. Reisen Sie ins Ausland. Gehen Sie nach England. Lassen Sie sich da in irgendeinem grossen Betrieb als Volontär anstellen. Das verträgt sich besser mit Ihrer künftigen Lebensaufgabe als die Stellung hier bei uns. Drüben sind Sie vollkommen Lady. Ich sage nicht, dass meine Frau und ich Sie hier nicht auch so eingeschätzt hätten. Aber in den Augen der fremden Leute zählt das hier anders. Ich glaube darum wirklich, Sie sind es Ihrem Verlobten schuldig, Ihr Amt hier niederzulegen. Dass ich Sie schmerzlich vermissen werde — na, und erst meine Frau — darüber wollen wir uns jetzt gar nicht unterhalten. Also suchen Sie sich ein nettes Plätzchen in der Welt. Wenn Sie wollen, bin ich Ihnen behilflich dabei. Solange Ihr Bräutigam dient, sind Sie auf diese Weise gut und einwandfrei untergebracht. Und wenn Sie übers Jahr im wunderschönen Monat Mai heiraten — dann haben Sie nicht nur als kleiner Gartendoktor bedeutende Fortschritte gemacht, sondern Sie können auch fliessend Englisch sprechen. What do you think about it?“
Das rotblonde Fräulein wälzte schwere Lasten über die Seele. Dies war hier Lebenswende, Schicksalsstunde. „Ich bin Ihnen — so von Herzen dankbar, Herr Geheimrat!“ Tief, tief atmete sie wieder auf. „Ja, ich glaube, so wird es gehen.“ Ein hellerer Schein, fast ein bisschen schelmischer Stolz blitzte jetzt aus ihren hellbraun-grünlichen Augen. „Ich habe nämlich mein Gehalt fast vom ganzen Winter noch unberührt liegen, da brauche ich den Pächter um nichts zu bitten. Das bisschen Gartenland, das jetzt noch mir gehört, und das Haus hat nämlich Vater noch verpachtet. Aber das bringt da draussen so wenig ein. Und die paar Papiere, die auf der Bank liegen, die greife ich unter keinen Umständen an.“
„Sie sind ja ein Tausendsassa, ein Spargenie. Also deswegen sind Sie auch den ganzen Winter über nicht ins Theater gegangen?“
Sie nickte lächelnd, ein bisschen beschämt, und doch zugleich siegesbewusst. „Es hat mich manchmal einen tüchtigen Kampf gekostet, so ein Geizhals zu sein.“
„Hmhmhm. Das hätte ich ahnen sollen. Meine Frau meinte ... Na, da haben Sie nun herzlich wenig von Berlin gehabt, liebes Kind. Wenn Sie nach England kommen, dann wirtschaften Sie mehr aus dem Vollen.“
„Nein, nein, Herr Geheimrat.“ Fast ängstlich sagte sie’s. „Mit ganz leeren Händen will ich dort nicht ankommen.“
„Wo, dort? In Wiesbaden?“
Sie bejahte stumm.
Den seltsamen Stolz begriff er nicht recht. Was konnte sie schon viel mitbringen? Und die Witwe Viktor H. Troilos durfte man doch gut und gern als eine halbe Millionärin einschätzen. Wenn das noch reichte. „Na, mein liebes Fräulein Lutz, hoffentlich finden Sie das Rechte. Soweit ich Ihnen beistehen kann, geschieht es gern, herzlich gern. Ueberlegen Sie sich alles, und wenn Sie mit sich klar geworden sind, dann sprechen wir weiter.“
Katarina trocknete ihre Augen, dankte dem Geheimrat noch einmal tief bewegt und verliess sein Arbeitszimmer — in ihrer stillen, bescheidenen Art, und doch innerlich gehoben und gestärkt.
Der Geheimrat aber stand vom Schreibtisch auf, kniff ein Auge zusammen und starrte entschlusslos auf die gegenüberliegende, dickgepolsterte Tür, die zum Wohnzimmer führte. Dort sass seine Frau mit einer Häkelarbeit auf dem Sofa, in grosser Unruhe auf die Nachricht von ihm wartend: ob Fräulein Lutz zum 1. April ginge oder ob sie bliebe?
Und er musste seiner Frau das Geständnis ablegen, dass er selbst dem rotblonden kleinen Fräulein noch ernstlich zugeredet hatte, nach England zu reisen ...
Er