Maigret auf Reisen. Georges Simenon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georges Simenon
Издательство: Bookwire
Серия: Georges Simenon
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701941
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       Der 51. Fall

      Georges Simenon

      Maigret auf Reisen

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Claire Schmartz

      Kampa

      1 Was im George-V geschah, während es in Paris regnete, Maigret schlief und ein paar Leute ihr Bestes taten

      »Die verzwicktesten Fälle sind jene, die anfangs so banal wirken, dass man ihnen keine Bedeutung beimisst. Ein bisschen wie bei Krankheiten, die schleichend beginnen, mit leichtem Unwohlsein. Wenn man sie dann endlich ernst nimmt, ist es oft schon zu spät.«

      Das hatte Maigret einmal zu Janvier gesagt, als sie eines Abends über den Pont Neuf zurück zum Quai des Orfèvres gingen.

      Doch in dieser Nacht enthielt sich Maigret einer Einschätzung der Ereignisse, denn er schlief tief und fest neben Madame Maigret in seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir.

      Selbst wenn er geahnt hätte, dass es Scherereien geben würde, hätte er sie nicht im Hôtel George-V erwartet, das häufiger in den Klatschpalten der Zeitungen als in den Lokalnachrichten auftauchte, sondern eher von der Tochter eines Abgeordneten, die er in sein Büro hatte vorladen müssen, um ihr nahezulegen, in Zukunft ein paar extravagante Gewohnheiten bleiben zu lassen. Obwohl er in väterlichem Ton mit ihr gesprochen hatte, war sie empört gewesen. Allerdings hatte sie auch erst vor Kurzem ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert.

      »Sie sind nichts als ein unbedeutender Beamter. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie rauswirft!«

      Um drei Uhr morgens fiel ein kaum sichtbarer Sprühregen und überzog die Straßen mit einem feinen Film, der, wie Tränen in den Augen, die Lichter stärker glänzen ließ.

      Um halb vier läutete es im dritten Stock des George-V, in dem Raum, in dem ein Hausdiener und ein Zimmermädchen vor sich hin dösten. Sie schlugen die Augen auf. Der Hausdiener sah als Erster, dass die gelbe Lampe aufleuchtete, und sagte:

      »Für Jules.«

      Es bedeutete, dass jemand nach dem Kellner geklingelt hatte, der jetzt einem Gast ein dänisches Bier brachte.

      Das Zimmermädchen und der Hausdiener nickten wieder ein, jeder auf seinem Stuhl. Eine Weile war alles still, dann klingelte es erneut, gerade als der über sechzigjährige Jules, der wie immer den Nachtdienst versah, mit dem leeren Tablett zurückkehrte.

      »Ja, ja. Komme ja schon«, knurrte er zwischen den Zähnen.

      Ohne Hast ging er zur 332, wo über der Tür eine Lampe angegangen war, klopfte und wartete kurz. Da keine Antwort kam, öffnete er vorsichtig die Tür. In dem dunklen Salon war niemand. Vom Schlafzimmer drang ein schwacher Lichtschein herüber, und der Kellner hörte leises, anhaltendes Wimmern wie von einem Tier oder einem Kind.

      Auf dem Bett lag die kleine Comtesse, die Augen halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, die Hände aufs Herz gepresst.

      »Wer ist da?«, ächzte sie.

      »Der Kellner, Madame.«

      Er kannte sie gut. Auch sie kannte ihn gut.

      »Ich sterbe, Jules. Aber ich will nicht sterben. Holen Sie einen Arzt, schnell. Gibt es im Hotel einen?«

      »Um diese Zeit nicht, Madame, aber ich lasse die Krankenschwester rufen.«

      Vor gut einer Stunde hatte er eine Flasche Champagner, eine Flasche Whisky, Sodawasser und einen Eiskübel gebracht.

      Im Salon standen noch die Flaschen und Gläser, bis auf eine Champagnerflöte, die nun auf dem Nachttisch lag.

      »Hallo! Schnell, die Krankenschwester!«

      Mademoiselle Rosay, die Telefonistin, wunderte sich nicht, sondern steckte einen Stöpsel in eine der Buchsen der Anlage, dann einen zweiten.

      Jules hörte ein entferntes Klingeln, dann eine verschlafene Stimme: »Hier Mademoiselle Genévrier.«

      »Kommen Sie bitte sofort in die 332 herunter!«

      »Ich sterbe, Jules …«

      »Keine Angst, Sie werden nicht sterben, Madame.«

      Er wusste nicht, was er tun sollte. Er ging in den Salon, knipste die Lampen an und stellte fest, dass die Champagnerflasche leer, die Whiskyflasche dagegen noch zu einem Viertel gefüllt war.

      Die Comtesse Palmieri wimmerte immer noch, die Hände über der Brust verkrampft.

      »Jules …«

      »Ja, Madame?«

      »Wenn es zu spät ist …«

      »Mademoiselle Genévrier ist schon unterwegs.«

      »Wenn es zu spät ist, sagen Sie ihnen, ich habe mich vergiftet, aber ich will nicht sterben.«

      Nachdem sie der Form halber leise an die Tür geklopft hatte, betrat die Krankenschwester die Suite. Sie hatte graues Haar und ein fahles Gesicht und roch unter ihrem weißen Kittel noch nach Schlaf. Sie hielt ein bräunliches Fläschchen mit Gott weiß was in der Hand und hatte sich die Taschen ihres Kittels mit Medikamentenschachteln vollgestopft.

      »Sie sagt, sie hat sich vergiftet.«

      Mademoiselle Genévrier sah sich um, entdeckte den Papierkorb, holte ein Tablettenröhrchen heraus und las das Etikett.

      »Sagen Sie der Telefonistin, sie soll Doktor Frère anrufen. Es ist dringend.«

      Jetzt, da sich jemand um sie kümmerte, schien die Comtesse sich in ihr Schicksal zu ergeben, denn sie versuchte nicht mehr zu sprechen, und ihr Wimmern wurde leiser.

      »Hallo! Rufen Sie Doktor Frère an, schnell … Aber nein! Das kommt nicht von mir! Die Krankenschwester braucht ihn.«

      In Luxushotels und gewissen Pariser Vierteln kommt Derartiges so häufig vor, dass, wenn in der Notrufzentrale nachts ein Anruf zum Beispiel aus dem 16. Arrondissement eingeht, die erste Frage fast immer lautet:

      »Gardénal?«

      Der Name des Schlafmittels ist jedem ein Begriff. Man spricht von »einem Gardénal«, so wie man von einem »Bercy« spricht, wenn man einen Betrunkenen meint, den man beim Quai de Bercy aus dem Wasser gefischt hat.

      »Holen Sie warmes Wasser.«

      »Abgekocht?«

      »Egal, Hauptsache warm …«

      Mademoiselle Genévrier hatte der Comtesse den Puls gemessen und ihre Lider angehoben.

      »Wie viele Tabletten haben Sie genommen?«

      Mit der Stimme eines kleinen Mädchens antwortete sie:

      »Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht mehr … Lassen Sie mich nicht sterben.«

      »Natürlich nicht, meine Liebe. Hier, trinken Sie.«

      Sie legte ihr den Arm um die Schultern, stützte sie und hielt ihr ein Glas an die Lippen.

      »Steht es schlimm?«

      »Trinken Sie!«

      Ganz in der Nähe, in der Avenue Marceau, zog sich Doktor Frère in aller Eile an, schnappte sich seine Tasche, verließ das in tiefem Schlaf liegende Haus und stieg in seinen Wagen, der am Straßenrand stand.

      Die Marmorhalle des George-V war menschenleer, bis auf den Mann am Empfang, der hinter der Mahagonitheke eine Zeitung las, und den Concierge, der gar nichts tat.

      »332«, sagte der Arzt im Vorbeigehen.

      »Ich weiß.«

      Die Telefonistin hatte ihm Bescheid gegeben.

      »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

      »Mal sehen.«

      Doktor Frère kannte die meisten Zimmer