Inzwischen hatte Franz Fotos gemailt, die er vom Hubschrauber aus gemacht hatte. Roman und Capaul setzten sich in den Kastenwagen, um sie auf Romans Handy zu sichten. Keines gab irgendeinen Hinweis auf den Verbleib des Sonderlings.
Um zwölf Uhr drehten sie das Radio an und hörten das Pressekommuniqué in den Nachrichten: »Bergabbruch im Engadin fordert mutmaßliches Todesopfer. Ein Felssturz am Linard Pitschen oberhalb von Lavin hat acht Wanderer und zwei Sennen über Nacht in der Val Lavinuoz eingeschlossen. Diese konnten heute früh unverletzt aus dem Krisengebiet geflogen werden. Die Suche nach dem verschollenen Einheimischen musste zwischenzeitlich eingestellt werden, da der Berg noch immer aktiv ist. Das mutmaßliche Opfer hatte sich zur Zeit des Niedergangs im Zentrum des Ablagerungsgebiets nahe der Alp d’Immez aufgehalten. Laut Meldung der Kantonspolizei Graubünden wurde der Sechsundfünfzigjährige mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Felsmassen begraben. An der Ostflanke des Linard Pitschen lösten sich am Dienstagabend rund dreißigtausend Kubikmeter Gestein und stürzten tausend Meter talwärts.«
»Was für ein Unsinn«, wunderte sich Capaul. »Es wurde doch noch gar nicht gesucht. Und ob Tumasch dort war, wissen wir auch nicht mit Sicherheit.«
»Natürlich haben wir gesucht«, sagte Roman und stieg aus dem Wagen, »vom Hubschrauber aus. Wir haben Fotos ausgewertet. Und wenn Tumaschs Frau sagt, er war in der Val Lavinuoz, dann war er auch dort. Komm, wir essen bei Emil.«
»Aber da könnte doch jeder kommen«, schimpfte Capaul und ging ihm nach. »Ich höre im Radio, dass in der Gegend ein Bergsturz ist, schlage meinen Mann tot und behaupte, er ist dort oben umgekommen.«
»Felssturz, nicht Bergsturz«, korrigierte Roman ruhig. »Und warum sollte Meta das tun? Sie hat ihn so viele Jahre ausgehalten. Jeder hätte verstanden, wenn sie Tumasch verlassen hätte. Was heißt ›verstanden‹. ›Geh‹, haben die Leute gesagt, ›mach was aus deinem Leben, du bist doch noch jung. Lass dich von diesem Krüppel nicht runterziehen.‹ Aber sie hat gesagt: ›Cla war mein Schicksal, und Tumasch ist mein Schicksal. Sein Schicksal wählt man nicht, und man weicht ihm auch nicht aus.‹ Cla, musst du wissen, war ihr Sohn. Er war noch ein halbes Kind, als er gestorben ist.«
»Woran?«
»Jagdunfall.«
»Und wieso Krüppel?«
»Tumasch hatte eine Gehbehinderung.«
»Und was du über diese Meta und die Leute gesagt hast, woher weißt du das alles? Seid ihr befreundet?«
»Nein, bei uns weiß man so was eben.«
Inzwischen hatten sie das Hotel Piz Linard erreicht, einen rosafarbenen Jugendstilbau, der den Hauptplatz dominierte. Roman trat in die Gaststube, sagte im Vorbeigehen etwas zur Wirtstochter und steuerte den Stammtisch an. Sie waren die einzigen Gäste.
»Trotzdem kann man doch kein Todesopfer melden, ehe man nicht die Leiche findet«, fing Capaul wieder an. »Dazu nur gerade einen einzigen Tag nach dem Unglück.«
»Warum nicht?«, fragte Roman und schnappte sich eine Scheibe Brot vom Nebentisch. »Was sonst? Weißt du, wie lange es normalerweise dauert, bis ein Vermisster für tot erklärt wird? Fünf Jahre. Fünf lange Jahre wartet die Ehefrau darauf, sich Witwe nennen zu dürfen, fünf Jahre lang bekommt sie keine Entschädigung, keine Rente, darf nicht wieder heiraten, hat kein Grab, an dem sie trauern kann. Meta hat das Glück, dass Bondo erst ein gutes Jahr her und noch in allen Köpfen ist. Die Leichen dort wurden auch nie gefunden, aber weil keiner Zweifel an ihrem Tod hatte, ging alles sehr schnell. Innerhalb von ein paar Wochen wurden die Vermissten für tot erklärt, und die Versicherung konnte zahlen. Es hier genauso zu halten, ist das Geringste, das wir für Meta tun können.«
Inzwischen hatte die Wirtstochter das Essen gebracht, für beide je einen Teller Capuns mit Salat und eine Karaffe Wasser. Offenbar hatte Roman schon beim Eintreten bestellt. Er schob sich die Serviette in den Hemdausschnitt und begann zu essen.
Die gerollten und gefüllten Mangoldblätter sahen hervorragend aus, doch Capaul konnte das Essen nicht genießen. »So was liegt ganz einfach nicht in unserer Kompetenz«, ereiferte er sich. »Die Polizei klärt die Fakten, die Gerichte interpretieren sie. So habe ich es gelernt.«
»Ein bisschen leiser bitte.« Roman tupfte sich den Mund ab. »Du hast ja recht, zumindest, was das Prinzip angeht. Nur sieht die Realität ganz anders aus: Die Gerichte sind völlig überlastet, Fälle werden verschleppt – nein, nicht einmal verschleppt, sie stauen sich einfach. Und warum? Weil die Gesetze nichts taugen. Sie sind das Problem, nicht der Vollzug. Weil sie schlicht nicht praktikabel sind. Die Gesetze werden eben nicht von Profis gemacht, nicht von Juristen und der Polizei, sondern von Politikern. Laien, die keine Ahnung von Tuten und Blasen haben. Und wir Profis baden das aus. Ich sage dir, ich habe mich krumm geschuftet, um dem ›Buchstaben des Gesetzes‹ zu genügen. Bis zum Burn-out. Ja, ich war ein halbes Jahr weg vom Fenster. Und Barbla hat Kinder. Erzähl du uns nichts von Kompetenzen. Wir haben Kompetenzen. Und glaub mir, es ist allen gedient, den Bürgern genauso wie der Justiz und den Politikern, wenn wir – ich rede immer nur von unbestrittenen Fällen, ja? – das Wohlwollen vor den Buchstaben des Gesetzes stellen.«
»Das Wohlwollen«, wiederholte Capaul verwundert.
»Ja, das Wohlwollen. Zu deiner Erinnerung: Im Zweifelsfall gilt die Unschuldsvermutung. Das steht im Gesetz. Und ist der Zweifel so verschwindend gering wie etwa bei Tumasch und Meta, dürfen wir uns durchaus die Kompetenz herausnehmen, diesen letzten winzigen Zweifel stillschweigend zu beerdigen.«
Roman hatte sich echauffiert, auf seine Stirn waren viele kleine Schweißtropfen getreten. Capaul hatte irgendwie Mitleid mit ihm, trotzdem konnte er es nicht lassen zu bemerken: »Also für mich klingt das nach Wildem Westen.«
Roman schnaubte. »Nenn es, wie du willst. Für mich ist es gesunder Pragmatismus, basta.« Er gab der Wirtstochter ein Zeichen, und sie brachte den Kaffee.
Gleichzeitig erschien ein hochgewachsener Mann mit markantem Gesicht im Küchendurchgang. Er kam beschwingt an den Tisch und erklärte: »Der geht aufs Haus. Hat es geschmeckt?«
»Eins a, wie immer«, antwortete Roman schon fast wieder ruhig. »Das ist Massimo, ein Neuzugang.«
»Emil, der Wirt. Willkommen in der schönen Provinz.« Markig schlug er in Capauls dargebotene Hand ein. »Maria, bringst du uns bitte drei Amari?«
Sie hatten offenbar schon parat gestanden. Nachdem Maria sie gebracht hatte, erhob Emil das Glas und verkündete launig: »Auf den armen Tumasch! Er hat den Tod gefunden, den er verdiente. Und auf Meta, die Gute, Tapfere! Was sie nicht schon alles ertragen musste.«
Roman seufzte zustimmend, dann tranken sie ihre Gläser leer.
»Was heißt ›den Tod, den er verdiente‹?«, erkundigte sich Capaul.
»Kurz und schmerzlos«, erklärte Emil. »Dazu liebte Tumasch Steine über alles. Man möchte fast sagen, Steine waren sein Leben. So gesehen hatte er einen Prachtstod. Ein Dreißigtausendtonnendenkmal, was kann man sich Schöneres wünschen? Sagt übrigens Meta, die Leichenfeier geht auf mich.«
Capaul wollte dagegenhalten, doch Roman kam ihm zuvor: »Offiziell ist Tumasch erst tot, wenn das Zivilstandesamt eine entsprechende Meldung macht.«
»Seht ihr denn noch Hoffnung?«, fragte Emil.
»Nein«, sagte Roman.
»Hoffnung gibt es immer«, antwortete Capaul zeitgleich, was Roman mit der Bemerkung kommentierte: »Er ist noch jung.«
Emil lächelte.
»Was ist Hoffnung?«, fragte er, die Antwort gab er selbst. »Für eine verlorene Seele wie Tumasch ist die einzige Hoffnung, dass irgendwann alles endet. Selbst wenn die Trümmer ihm noch nicht den Rest gegeben haben sollten, selbst wenn er verletzt, zerquetscht, ausgeblutet dort am Berg in Staub und Schutt liegt, um allmählich zu verdorren, wird er keinen Augenblick darum beten, gerettet zu werden, sondern immer nur darum, dass ihn bald der