Eine besondere kleine Freundin von Holly war vorbeigekommen – ein blondes Mädchen mit Haaren so kurz wie die eines Jungen. Die beiden tollten in der Ferne herum, unter der Treppe, auf der Treppe, oben in der Galerie. Der alte Jolyon bat sie, etwas von Chopin zu spielen. Sie spielte Etüden, Mazurkas, Walzer, bis die beiden Kinder herbeigeschlichen kamen und am Klavierende standen, wo sie lauschten, den dunklen und den goldenen Schopf nach vorne gebeugt.
Der alte Jolyon beobachtete die Szene.
»Tanzt doch mal für uns, ihr zwei!«
Schüchtern und mit einem falschen Schritt fingen sie an.
Hopsend und kreisend tanzten sie mit ernstem Ausdruck und nicht sehr geschickt zu der Melodie des Walzers immer wieder an seinem Stuhl vorbei.
Er beobachtete die beiden und das Gesicht von Irene, die sich mit einem Lächeln zu den kleinen Tänzern umdrehte, und dachte: ›So ein süßes Bild habe ich schon lange nicht mehr gesehen.‹
Eine Stimme war zu hören: »Hollee! Mais enfin – qu’est-ce que tu fais la – danser, le dimanche! Viens, donc!«
Doch die Kinder kamen zum alten Jolyon, denn sie wussten, dass er ihnen helfen würde, und sie blickten in ein Gesicht, das eindeutig nach ›ertappt‹ aussah.
»Je besser der Tag, desto besser die Tat, Mamsell. Das geht alles auf meine Kappe. Ab mit euch, ihr Küken, trinkt euren Tee!«
Und als sie weg waren und mit ihnen der Hund Balthasar, der keine Mahlzeit ausließ, sah er Irene mit einem Zwinkern an und sagte: »Na, sind sie nicht süß? Sind unter deinen Schülern auch ein paar kleine?«
»Ja, drei – zwei davon sind echte Engel.«
»Sind sie niedlich?«
»Allerliebst!«
Der alte Jolyon seufzte. Er konnte einfach nie genug kriegen von den ganz Jungen. »Meine liebe Kleine«, sagte er, »liebt Musik. Sie wird mal eine Musikerin werden. Du möchtest mir nicht deine Meinung sagen, wie sie spielt, oder?«
»Doch, natürlich.«
»Du würdest ihr nicht …« Doch er verkniff sich die Worte: »Unterricht geben wollen, oder?« Der Gedanke, dass sie Unterricht gab, gefiel ihm nicht. Und doch würde es bedeuten, dass er sie regelmäßig sehen könnte. Sie verließ ihren Platz am Klavier und kam hinüber zu seinem Stuhl.
»Das würde ich sehr gerne, die Sache ist nur – June. Wann kommen sie denn zurück?«
Der alte Jolyon runzelte die Stirn. »Nicht vor Ende des nächsten Monats. Was spielt das für eine Rolle?«
»Du hast gesagt, June hat mir verziehen. Aber sie wird das nie vergessen können, Onkel Jolyon.«
Vergessen! Sie musste es vergessen, wenn er das wollte.
Doch wie als Antwort darauf schüttelte Irene den Kopf. »Du weißt, dass sie das nicht kann. Man vergisst nicht.«
Immer diese verdammte Vergangenheit! Und mit einer Art verärgerter Endgültigkeit sagte er:
»Na ja, das werden wir ja sehen.«
Er unterhielt sich noch mindestens eine Stunde mit ihr ‒ über die Kinder und über zig verschiedene Kleinigkeiten, bis die Kutsche da war, um sie nach Hause zu bringen. Und als sie weg war, ging er zurück zu seinem Stuhl und saß da und strich sich mit der Hand über sein Gesicht und sein Kinn und durchlebte in Gedanken noch einmal diesen Tag.
An jenem Abend ging er nach dem Essen in sein Arbeitszimmer und nahm ein Blatt Papier heraus. Für ein paar Minuten saß er da, ohne etwas zu schreiben. Dann stand er auf und stellte sich vor das Meisterwerk Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang. Er dachte nicht über jenes Bild nach, sondern über sein Leben. Er wollte ihr etwas in seinem Testament hinterlassen; nichts anderes hätte so sehr die stillen Tiefen seiner Gedanken und Erinnerungen aufwühlen können.
Er wollte ihr einen Anteil an seinem Vermögen hinterlassen, einen Teil seiner Bestrebungen, seiner Taten und Fähigkeiten, seiner Arbeit – all dessen, was zu seinem Reichtum geführt hatte. Er wollte ihr auch einen Teil all dessen hinterlassen, was er im Leben durch sein vernünftiges und stetiges Streben nach Reichtum verpasst hatte. All die Dinge! Was hatte er verpasst? Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang konnte ihm darauf keine Antwort geben. Er ging hinüber zur Fenstertür, zog den Vorhang zu Seite und öffnete sie.
Ein Wind war aufgekommen und eines der Eichenblätter vom Vorjahr, das es irgendwie geschafft hatte, dem Rechen des Gärtners zu entwischen, flog mit einem leise knackenden Rascheln im Halbdunkel über die Steinterrasse. Ansonsten war es sehr still dort draußen und er konnte das Heliotrop riechen, das vor Kurzem gegossen worden war. Eine Fledermaus flog vorbei. Ein Vogel zwitscherte seinen letzten Piepser. Und direkt über der Eiche schien der erste Stern. In der Oper hatte Faust seine Seele gegen ein paar zusätzliche Jahre der Jugend eingetauscht. Ein morbider Gedanke! So ein Geschäft war nicht möglich, das war die wahre Tragödie! Man konnte sich nicht wieder jung machen für die Liebe oder das Leben oder irgendetwas anderes.
Es blieb einem nichts übrig, als Schönheit aus der Ferne zu genießen, solange man es noch konnte, und ihr etwas im Testament zu hinterlassen. Doch wie viel? Und als könne er dies nicht entscheiden, während er in die milde Freiheit der Nacht auf dem Land hinausblickte, wandte er sich ab und ging zum Kamin. Dort standen seine geliebten Bronzefiguren – eine Kleopatra mit der Uräusschlange an der Brust, ein Sokrates, eine Windhündin, die mit ihrem Jungen spielte, ein starker Mann, der ein paar Pferde an den Zügeln hielt. ›Die überdauern!‹, dachte er, und ein Schmerz durchfuhr sein Herz. Die hatten noch Tausende von Jahren vor sich!
Wie viel? Nun, auf alle Fälle so viel, dass sie nicht frühzeitig altern musste, dass die Falten sich so spät wie möglich in ihrem Gesicht abzeichneten und das Grau so spät wie möglich ihr helles Haar verdarb. Er würde vielleicht noch fünf Jahre leben. Dann wäre sie gut dreißig. Wie viel? In ihr floss nicht sein Blut! Getreu dem Tenor seines Lebens, der ihn seit mehr als vierzig Jahren leitete, seit er geheiratet und jenes rätselhafte Gebilde gegründet hatte, eine Familie, kam ihm dieser warnende Gedanke: nicht sein Blut, keinen Anspruch auf irgendetwas!
Es war also reiner Luxus, diese Idee. Eine Extravaganz, ein Nachgeben gegenüber den Capricen eines alten Mannes, eines dieser Dinge, die man macht, wenn man senil ist. Seine wahre Zukunft ruhte in jenen, die sein Blut hatten, in denen er nach seinem Tod weiterleben würde. Er wandte sich von den Bronzefiguren ab und betrachtete den alten Ledersessel, in dem er so oft gesessen und Hunderte von Zigarren geraucht hatte. Und plötzlich schien es ihm, als würde er sie dort sitzen sehen in ihrem grauen Kleid, duftend, sanft, mit dunklen Augen, anmutig, zu ihm aufschauend.
Ach was, er bedeutete ihr nichts, wirklich nicht! Ihr bedeutete nur ihr verlorener Geliebter etwas. Aber ob sie es nun wollte oder nicht, sie war da und bereitete ihm Freude mit ihrer Schönheit und ihrer Anmut.
Niemand hatte das Recht, ihr die Gesellschaft eines alten Mannes zuzumuten oder sie zu bitten, hierherzukommen, damit sie für ihn spielte und er sie betrachten konnte – ohne Gegenleistung! Man musste in dieser Welt für Freude zahlen. Wie viel? Es war schließlich reichlich da, sein Sohn und seine drei Enkelkinder würden das kleine Bisschen niemals vermissen. Er hatte alles selbst verdient, fast jeden Penny davon. Er konnte es hinterlassen, wem er wollte, konnte sich diese kleine Freude gönnen. Er ging zurück zum Schreibtisch. ›Ach‹, dachte er, ›sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich werde es tun!‹ Und er setzte sich.
Wie viel? Zehntausend, zwanzigtausend – wie viel? Wenn er sich doch nur mit seinem Geld ein Jahr Jugend erkaufen könnte, einen Monat! Und erschrocken über diesen Gedanken schrieb er schnell:
»Lieber Herr Herring – formulieren Sie mir zu Folgendem einen Testamentsnachtrag: ›Ich hinterlasse meiner Nichte Irene Forsyte, geborene Heron ‒ der Mädchenname, unter dem sie jetzt lebt ‒ fünfzehntausend Pfund, frei von Erbschaftssteuer.‹
Mit freundlichen Grüßen,
Jolyon Forsyte.«
Als