»Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, daß er bis zu seinem dritten oder vierten Lebensjahr in einer derartigen Umgebung ,gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Selbstbewußtsein die Erinnerungen an die frühere Existenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen.«
»Eine sehr naheliegende, sehr nüchterne Erklärung«, bemerkte Daumer gallig. »Also der Hintergrund dieses Schicksals wäre nichts weiter als eine gewöhnliche Räubergeschichte.«
»Eine Räubergeschichte? Mir recht, wenn Sie es so nennen. Ich verstehe nicht, weshalb Sie sich dagegen wehren. Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen sein? Wollen Sie irdische Verhältnisse für ihn nicht gelten lassen?«
»O gewiß, gewiß!« Daumer seufzte. Dann fuhr er fort: »Ich schmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts ist eben das, was ich Caspar ersparen wollte. Gerade das Freie, Freischwebende, Schicksallose war es ja, was mich so stark an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umstände haben diesen Menschen mit Gaben bedacht, wie kein andrer Sterblicher sich ihrer rühmen kann; und das soll nun alles verkümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebnissen, die ja an sich tragisch genug sein mögen, aber doch nichts Ungemeines an sich haben.«
»Ich verstehe, Sie wollen den mystischen Nimbus nicht zerstören«, versetzte der Bürgermeister mit etwas pedantischer Geringschätzung. »Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenschen Caspar Hauser als gegen das Unikum Caspar Hauser. Lassen Sie sich das ernstlich gesagt sein, lieber Professor. Es erscheinen heutzutage keine Engel mehr, und wo Unrecht geschehen ist, muß Sühne sein. »
Daumer zuckte die Achseln. »Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heil Caspars tun?« fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeister lächerlich erschien. »Nur Erdenschwere und Erdenschmutz heften Sie ihm an. Schon jetzt erhebt sich ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an seiner Sache verbittert wird. Es werden böse Geschichten zutage kommen. »
»Das sollen sie; wenn sie nur zutage kommen», erwiderte Binder lebhaft. Im übrigen tue jeder, was seines Amtes. »
Am nächsten Vormittag stellte sich der Bürgermeister in Daumers Wohnung ein, und sie gingen mit Caspar zur Burg hinauf Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüsselbund und geleitete sie hinüber.
Als sie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor standen, war es, als ob sich Caspars Gesicht plötzlich entschleiere. Er reckte sich auf sein Oberleib bog sich nach vom, und er stammelte: »So eine Tür, genau so eine Tür. «
»Was meinst du, Caspar, was schwebt dir vor?« fragte der Bürgermeister liebevoll.
Caspar antwortete nicht. Mit gesenktem Auge und nachtwandlerischer Langsamkeit schritt er durch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn vorangehen. Immer nach ein paar Schritten blieb er stehen und sann. Seine Erschütterung wuchs zusehends, als er die breite Steintreppe hinaufstieg. Oben blickte er sich seufzend um; sein Gesicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn seiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu sprechen begann, sah ihn Caspar mit einem fernweilenden Bück an, lispelte: “Dukatus, Dukatus« und lauschte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen.
Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildnisse an den Wänden, er schaute durch die Flucht der offenen Säle, er stand in der Galerie und schloß die Augen, und endlich, auf eine leise Frage des Bürgermeisters, wandte er sich um und sagte mit erstickter Stimme, es sei ihm so, als habe er einmal ein solches Haus gehabt, und er wisse nicht~ was er davon denken solle.
Der Bürgermeister sah Daumer schweigend an.
Nachmittags suchten sie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinschaft mit ihm den Bericht an den Präsidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch selbigen Tags zur Post gegeben.
Sonderbarerweise erfolgte darauf weder ein Bescheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präsident das Schriftstück erhalten habe. Der Brief mußte verlorengegangen oder gestohlen worden sein. Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß dieser von nichts wisse. Unruhe und Bestürzung bemächtigte sich der drei Herren. »Sollte da ein unsichtbarer Arm im Spiel sein wie bei jenem Zettel, den man mir ins Fenster geworfen hat?« meinte Daumer ängstlich. Nachforschungen bei der Post hatten kein Ergebnis, und so ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen sicheren Boten dem Präsidenten persönlich eingehändigt.
Feuerbach erwiderte in seiner kategorischen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle und sich aus naheliegenden Gründen einerschriftlichen Meinungsäußerung enthalte. »Ich entnehme aus dem Gesundheitsattest des Amtsarztes, worin bei einem sonst befriedigenden Befund von Caspars bleicher Gesichtsfarbe die Rede ist, daß es dem jungen Menschen an regelmäßiger Bewegung in freier Luft fehlt«, schrieb er; »hier ist Abhilfe dringend nötig. Man lasse ihn reiten. Es ist mir der Stallmeister von Rumpler dort selbst empfohlen worden. Hauser soll dreimal wöchentlich eine Reitstunde bei ihm nehmen, die Kosten soll der Stadtkommissär auf Rechnung setzen.«
Vielleicht waren es die Träume, die Caspar blaß machten. Fast jede Nacht befand er sich in dem großen Haus. Die gewölbten Hallen waren von silbernem Licht durchflutet. Er stand vor der geschlossenen Tür und wartete, wartete….
Endlich eines Nachts, die dämmernden Räume des großen Hauses dehnten sich schweigend und leer, tauchte vom untersten Gang her eine schwebende Gestalt auf Caspar dachte zuerst, es sei der Mann im weißen Mantel; aber als die Gestalt näherkam, gewahrte er, daß es eine Frau war. Weiße Schleier umhüllten sie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor. Caspar blieb wie festgewurzelt stehen, sein Herz tat ihm wehe, als hätte eine Faust danach gegriffen und es gepackt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen solchen Ausdruck des Kummers, wie er ihn noch an keinem Menschen bemerkt. je näher sie kam, je furchtbarer schnürte sein Herz sich zusammen; ernst schritt sie vorbei; ihre Lippen nannten seinen Namen, es war nicht der Name Caspar, und doch wußte er, daß es sein Name war oder daß ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denselben Namen zu nennen, und als sie schon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau seine Mutter war.
Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer kam, stürzte er ihm entgegen und rief: »Ich hab sie gesehen, ich hab meine Mutter gesehen, sie war es, sie hat mit mir gesprochen! «
Daumer setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Sieh mal, Caspar«, sagte er nach einer Weile, »du darfst dich solchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es bedrückt mich aufrichtig und schon lange. Es ist, wie wenn jemand in einem Blumengarten lustwandeln darf und, statt freudigem Genuß sich zu überlassen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Versteh mich wohl, Caspar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichtest, alles zu erfahren, was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bedenke doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präsident und Herr Binder, dafür am Werke sind. Du, Caspar, solltest vorwärts schauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dasein, dort ist das Glück. jeder Mensch von Vernunft kann, was er will; tu mir die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umsonst heißt es ja: Träume sind Schäume.«
Caspar war bestürzt. Der Gedanke, daß in seinen Träumen keine Wahrheit sein solle, wurde ihm zum erstenmal entgegengehalten, aber zum erstenmal war die eigne Gewißheit von einer Sache fester als die Meinung seines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete ihm keine Genugtuung, sondern Bedauern.
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