Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thilo Koch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711836224
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abends so überfüllt, daß manch ungeduldiger Autofahrer über „diese Gesellschaft von Nichtstuern“ fluchte. Aber den zornigen Signalen antworteten nur kichernde Mädchen, die behend zur Seite sprangen. Immer gleichmäßig gelassen schauten die alten Fachwerkhäuser mit ihren vorragenden Stockwerken und Erkern auf das fröhliche Gewühl herab.

      Thomas traf sich meistens mit Karl Machenberg, dem Klassenkameraden und Freund. Manchmal war Karls Schwester Gisela dabei. Gisela wurde aber immer nur zu schnell von ihren Freundinnen mitgezogen, die laut schwatzend und lachend die ernsthafteren Jungen in ihrer Primanerwürde stehen ließen.

      Heute kam Karl allein. Er wirkte immer etwas bedrückt. Nur in Thomas Gesellschaft wurde er freier und sprach auch nicht so gehemmt wie sonst. In der Schule brachte er oft kein Wort heraus, obwohl er meistens die Antwort wußte. Aehnlich ging es ihm auch sonst; er war ein Pechvogel. Dennoch verzagte er nicht und versuchte sich nützlich zu machen, wo er nur konnte. Jeder Entschluß fiel ihm schwer, hatte er ihn aber gefaßt, brachte ihn nichts mehr davon ab. Er wurde von seinen Mitschülern als guter Kamerad geschätzt.

      „Gisela ist zu Hause geblieben“, sagte er gleich, als er Thomas’ enttäuschtes Gesicht sah, „es geht der Mutter heute wieder sehr schlecht. Der Vater wurde erneut abgeholt.“

      „Was, schon wieder?“ fragte Thomas erschrocken.

      „Ja, heute nachmittag. Mutter ist völlig erschöpft von der Aufregung. Wir müssen das Schlimmste für sie befürchten.“

      Die beiden Freunde gingen schweigend nebeneinander her, wie von selbst hinaus in die Felder, denn nach dem Betrieb in der Hauptstraße war ihnen jetzt nicht zumute.

      „Und man kann nichts dagegen tun?“ sagte Thomas. „Was mag denn dein Vater wieder gesagt haben?“

      „Ich weiß nicht, Thomas. Er spricht mit Rücksicht auf die Mutter nicht von seinen Sorgen. Aber seit er damals dem Konzentrationslager knapp entronnen ist, war er vorsichtig in seinen Predigten. Schwer genug ist es ihm geworden, das weiß ich. Er tat es auch nur um der Mutter willen, denn er muß es ihr unbedingt ersparen, daß sich die damalige Demonstration wiederholt. Du wirst dich entsinnen, wie die SS den Vater in Sprechchören beschimpfte, wie man uns die Fenster mit Steinen einwarf, unsere Haustür besudelte und am liebsten uns alle gelyncht hätte. — Was man ihm jetzt wieder zur Last legt? Vielleicht ist es ein Vorwort, das er neulich für ein Buch schrieb. Darin äußert er sich gegen eine Gewaltherrschaft, die dem Menschen Freiheit des Glaubens verspricht, während sie in Wahrheit jeden vernichtet, der eine andere Meinung als die befohlene hat.“

      „Das darf man heute aber auch nicht laut sagen“, entgegnete Thomas gedrückt. „Warum vermeidet er solche Herausforderungen nicht, wo er doch weiß, daß er als einzelner nichts ändern kann! Wir müssen uns eben alle fügen, bis der erste Eifer sich gelegt hat und das Gute an der neuen Idee reiner in Erscheinung tritt.“

      Karl nickte: „Ich habe es ihm oft gesagt, man müsse sich über Fehler im Kleinen hinwegsetzen, wenn dafür das Große gedeiht. Und es gedeiht ja wirklich: Ueberall ein Erstarken und Aufblühen, keine Arbeitslosen mehr. Das sind Tatsachen. Er gibt das auch zu; er freut sich von Herzer über jeden Aufschwung unseres Volkes, aber er sagt, wenn jemand die Religion angreife und unterdrücke, dann sei das sein Feind.“

      „Er hat natürlich recht, aber er richtet sich damit zugrunde. Will er denn die Zahl der kirchlichen Märtyrer vergrößern?“

      „Du kennst ihn ja, Thomas, er ist alles andere als ein Fanatiker. Er gibt auch nach um der Familie willen; aber seit Mutters Krankheit, die durch jene Demonstration ausgelöst wurde, ist er manchmal bitter und unbeherrscht.“

      „Es war furchtbar damals. Aber meinst du nicht auch, daß es nur von unmaßgeblichen Lümmeln ausging?“

      „Ich bin davon überzeugt, sonst müßte man ja an allem zweifeln. Man kann doch nicht glauben, daß solche Vorgänge befohlen werden und mit Einverständnis der Regierung geschehen. Es ist eben ein Unglück für unsere Familie, daß Vater es zu ernst nimmt und nicht mit der Zeit geht.“

      Thomas dachte an Gisela und ihre Mutter. Was mochte bevorstehen?

      Ihren Gedanken nachhängend, kehrten beide in die Stadt zurück. Nicht wie sonst hatte ihnen die Natur Freude gemacht, obwohl doch die Sonne gerade hinter dem kleinen blauen Höhenzug, der die weiten Felder begrenzte, untergegangen war.

      Der Bummel verebbte bereits, als sie die Hauptstraße wieder erreichten. Nur Peter Möhlen in der Uniform eines HJ-Gefolgschafts führers, die er auch meistens in der Schule trug, stand noch mitten auf der Hauptstraße, von einer Schar Jungen umgeben, die ihm zuhörten.

      „Also ich sage euch jetzt zum letztenmal, daß der Bummel für uns nicht in Frage kommt. Das ist eine Sache von vorgestern. Ueberholt für uns. Ich will keinen von euch wieder hier treffen, sonst setzen wir eben öfter Dienst an, wenn ihr noch zuviel Freizeit habt.“

      Mit kurzer Wendung drehte er sich um und sah dabei seine Klassenkameraden Karl und Thomas.

      „Na, wo kommt ihr her?“ begrüßte er sie. „Freue mich, euch nicht auf dem Bummel gesehen zu haben. Blödes Getue hier.“

      „Ach, ich weiß nicht. Ich finde es nicht schlecht. Du bist etwas radikal, Peter.“ Thomas sah sinnend die Straße hinunter. An einigen Giebeln glühten Butzenscheiben in den letzten Sonnenstrahlen rot auf, als brenne es in den Häusern.

      „Das muß man, wenn ein neues Reich gebaut wird. Dieser Schlendrian ist absolut unproduktiv. Wir werden viele liebe Gewohnheiten aufgeben müssen.“ Peter blickte Thomas mit seinen scharfen, hellen Augen an. Kurz geschoren, aber nicht ganz gehorsam, standen seine rotblonden Haare von dem schmalen Kopf ab.

      „Ehrlich gesagt“, erwiderte Thomas leise, „oft sehne ich mich nach jener ruhigen, freien Zeit, zu der dieser Schlendrian paßte. Es geschieht heute alles so schnell, so rauh und rücksichtslos.“

      Peter schüttelte den Kopf: „Du neigst zu solchen Stimmungen, Thomas, aber du mußt sie unterdrücken. Später, wenn wir stark und groß in der Welt dastehen, magst du sie wieder hervorholen.“

      Thomas nickte. „Ja, ja, aber manchmal zweifle ich sogar, daß es jemals ruhige und freie Zeiten gab, außer in den Wunschträumen der Dichter. — ‚Das goldene Zeitalter‘! Ist es mehr als eine erbauliche Legende, erfunden zur Verklärung der Vergangenheit und der Zukunft, damit die niemals goldene Gegenwart erträglicher werde?“

      „Philosophieren wir nicht so viel.“ Peter sah nach der Uhr. „In fünf Minuten habe ich Führerbesprechung. Uebrigens, was höre ich, Karl, dein alter Herr ist wieder verhaftet worden? Tut mir aufrichtig leid. Er ist ein tadelloser Mensch und ein aufrechter Mann, wie wir welche brauchen im neuen Reich. Daß er christlich denkt und redet, ist schließlich seine Pflicht als Pastor. Ich bedaure nur, daß er überhaupt Pastor ist. Das führt ihn zu immer neuen Konflikten. Dabei kämpft er für eine Sache, die kaum noch lebendig ist. — Trotzdem sollte man ihn in Ruhe lassen. Ich werde mich für ihn einsetzen.“

      Karl hob die Schultern: „Ich zweifle, daß du etwas erreichst. Er selbst erträgt ja alles; sein Glaube macht ihn stark. Aber die Mutter . . .“

      2.

      Im Brösenheimer Gymnasium herrschte eine Stimmung freudiger Erwartung. Die großen Ferien waren nicht mehr weit. Das bedeutete fünf Wochen goldene Freiheit — keine Schulsorgen, frohe Fahrten, vielleicht eine große Reise.

      In der Prima äußerte sich die Hochstimmung gedämpfter, weil man doch nicht vergessen durfte, daß der obersten Klasse eine gewisse überlegene Würde zukommt. Aber die Hoffnungen auf die Ferien waren nicht weniger hochgespannt, handelte es sich doch gerade für die Primaner um die letzten großen Ferien.

      Dr. Melk, ihr Klassenlehrer, sagte: „Nützt diese fünf Wochen Freiheit noch einmal recht aus. Ihr werdet höchstwahrscheinlich nie wieder im Leben eine so lange Zeit frei sein — ausgenommen ihr würdet Lehrer werden. Aber davon muß ich abraten, es sei denn, bis dahin behandeln Primaner ihren Klassenlehrer netter, noch netter, als ihr mich. Macht in den Ferien meinetwegen eine schöne