»Du hast vorher nichts an ihm bemerkt?«
»Nein! Glaubst du nicht, dass ich in dem Fall etwas unternommen hätte?«
»Das war kein Vorwurf«, sagte Nielsen, »nur eine Frage.«
»Er war genau wie immer! Es gab nichts Ungewöhnliches. Und es muss plötzlich gekommen sein. Er lag mitten auf dem Fußboden, als wäre er dort niedergesunken . . .«
Er hörte, wie sie wieder regelmäßiger atmete.
»Was soll ich tun? Was soll ich nur tun!«
»Hast du mit Eva gesprochen?«, fragte er.
Sie holte tief Luft.
»Das kann ich doch nicht!«
Es war ein verzweifeltes Klagen.
»Ich kann es einfach nicht! Das musst du doch begreifen!«
»Ich glaube trotzdem, dass du es ihr erzählen solltest«, sagte Nielsen nach einer Weile.
Sie schwieg lange. Ihre Stimme bebte, war aber kontrolliert, als sie wieder sprach.
»Du hast natürlich Recht. Ich werde mit ihr reden. Ich muss es tun, niemand sonst.«
Lasse Henning und Eva waren seit fünfzehn Jahren verheiratet gewesen, als er Gisela traf. Die Scheidung war eine schlimme Geschichte gewesen, genau wie die Zeit danach. Und obwohl seitdem zehn Jahre vergangen waren, war es nicht zu etwas Ähnlichem wie einer Versöhnung zwischen Lasse und Eva gekommen. Gisela und Eva hatten eigentlich nie miteinander gesprochen.
Jetzt war es richtig dunkel. Die Scheinwerfer beleuchteten den nassen Asphalt. Er war auf die Autobahn gefahren, warf einen Blick auf die Überholspur und sah ein Auto nach dem anderen vorbeirasen. Trotz der Dunkelheit und des Regens sehr schnell. Mit minimalem Abstand. Nicht, dass es ihm zustand, das zu kritisieren, dachte er und erinnerte sich an Wahnsinnsfahrten, die er selbst gemacht hatte, auf dieser Strecke und vielen anderen. Kaum ein Tugendheld im Straßenverkehr. Oder auch sonst. Aber das war damals, zu einer anderen Zeit, vor zwanzig Jahren. Während der Zeit, als er und Lasse sich kennen gelernt hatten. Auch er war damals ein anderer gewesen.
Die Ausfahrt nach Märsta und Sigtuna tauchte auf, er blinkte und bog ab. Einen Augenblick lang erschien Lasses Gesicht auf der Netzhaut, das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war vor über einem Monat. Die müden Falten im runden Gesicht, die leicht geschwollenen Augen. Eigentlich hätte das, was geschehen war, für niemanden völlig überraschend kommen dürfen. Ein Schock, aber keine Überraschung. Lasse war über fünfzig, wog zu viel, hatte zu viel Stress, bewegte sich zu wenig. Sein Blutdruck war zu hoch, und das ging schon lange so. Zu sagen, dass er sich in einer Gefahrenzone befand, war keine Übertreibung, eher umgekehrt.
Nielsen starrte in die Dunkelheit. Keine Überraschung. Und ihm wurde klar, dass es auch nicht sein erstes Gefühl gewesen war, bei der Nachricht von Lasses Tod. Er hatte sich eher reingelegt gefühlt. Wie wenn jemand plötzlich verschwindet, ohne Bescheid zu sagen oder eine Nachricht zu hinterlassen. Reingelegt und enttäuscht. Und verlassen.
Sie ging direkt durch die Haupthalle zur Vasagatan hinaus. Ungefähr zwanzig Meter entfernt bremste ein Bus an der Haltestelle, und sie ging schneller. Lief an dem Springbrunnen vorbei, an dem ein erschöpftes Paar in den Vierzigern stand und einander anschrie. Alte Fixer, dachte sie. High oder betrunken oder beides.
»Ja, was zum Teufel . . . Bist du das? Komm her und rede! Ja, hörst du denn nicht? Komm her! Was ist mit dir los? . . .«
Sie spürte einen Ruck durch den Körper gehen, gleichzeitig erhöhte sich ihr Puls. Aber sie verzog keine Miene und sah sich nicht um. Erst als sie an der Bushaltestelle angekommen war, warf sie einen raschen Blick über die Schulter zu den beiden am Springbrunnen. Sie standen immer noch da und brüllten sich an, bis die Frau den Mann von sich wegstieß, sich umdrehte und fortging.
Sie atmete aus. Nichts. Niemand hatte ihr hinterhergeschrien. Sie hatte sich das eingebildet, sich verhört. Durch die Erleichterung fühlte sie sich im ganzen Körper schwach. Ihre Beine zitterten, als sie in den Bus einstieg.
Sie versuchte stets, Orte zu vermeiden, an denen jemand sie wiedererkennen könnte. In die Nähe des Hauptbahnhofs und des Platzes Platta wollte sie am liebsten gar nicht kommen. Nicht, weil das Risiko dort größer war, dachte sie. Eher im Gegenteil. Die Jugendlichen, die sich heute dort herumtrieben, könnten ihre Kinder sein. Aber es spielte keine Rolle, sie hielt sich trotzdem davon fern. Es wäre einfach nur dumm, dieses Risiko einzugehen.
An der Haltestelle Slussen stieg sie aus, stand fröstelnd im schneidenden Wind und wählte seine Handynummer, sie wusste nicht mehr zum wievielten Mal. Es war immer noch ausgeschaltet. Sie ließ das Telefon sinken und starrte ins Leere. Warum antwortete er nicht? Wo trieb er sich herum? Sie musste ihn erreichen. Jetzt. Sofort. Sie schloss die Augen, biss sich fest auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Dann holte sie tief Luft, schlug die Augen auf und entschloss sich.
»Für irgendeine Art von Notsituation«, hatte er gesagt, als er ihr die Adresse gegeben hatte. »Und wenn du dich sonst nirgendwohin wenden kannst.« Sie hatte sarkastisch das Gesicht verzogen. »Was sagt denn die kleine Frau dazu, was meinst du? Wenn jemand wie ich auftaucht?« Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Tja, du sagst es. Aber was kann sie schon tun? Außer mich umbringen.«
Sie lächelte ein wenig bei dieser Erinnerung, wurde aber schnell wieder ernst. Sie stand eine Weile unruhig vor der Tür, atmete hektisch. Von Slussen aus hatte sie einen Bus genommen, war einmal umgestiegen und das letzte Stück zu Fuß gegangen. Sie sah auf die Uhr. Ein paar Minuten nach eins. Dann ging sie vor und drückte auf die Klingel. Nichts passierte, sie wartete, drückte noch einmal, wartete wieder.
Erst beim dritten Versuch knisterte es in der Sprechanlage. Sie spürte, wie ihr Herz einen Satz machte, und lehnte sich an die Wand.
»Lasse?«, sagte sie leise.
Keine Antwort. Sie wartete noch eine Weile, mit angehaltenem Atem.
»Bist du das, Lasse? Bist du da?«
Sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als das Geräusch aus dem Lautsprecher drang. Ein wahnsinniges, gebrochenes Geheul. Langgezogen, das scheinbar nie aufhören würde. Sie hielt sich die Ohren zu, drehte sich abrupt um und zwang sich loszulaufen. Am Ende der Häuserzeile bog sie nach links, kürzte über eine Grasfläche ab, fiel fast hin, als die hohen Absätze in die weiche Erde sanken, erreichte wieder eine Straße, ging zwanzig Meter, bog in die nächste Querstraße ein, ging schräg durch ein neues Wohnviertel.
So ging sie weiter, im Zickzack voran, Straße für Straße. Sie ging jetzt ruhiger, versuchte unbekümmert zu wirken. Ab und zu warf sie einen Blick über die Schulter, sah aber niemanden. Sie dachte wieder an den Schrei. Angsterfüllt und gleichzeitig wütend.
Sie blieb stehen, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen. Zwang sich, ruhig zu werden, die Panik, die in ihr aufwallte, zu ersticken. Aber es war etwas passiert, das wusste sie. Etwas Furchtbares.
Es war ein älteres Paar, das die Leiche entdeckte. Die beiden waren auf der Regionalstraße 280 in Richtung Edsbro gefahren und hatten nach einem Platz gesucht, wo sie eine Pause machen und Kaffee trinken konnten. Sie waren auf einen kleinen Waldweg abgebogen, der jedoch nur zu einem Müllplatz eineinhalb Kilometer im Wald führte. Alte Kühlschränke, Fernsehgeräte, Kanister mit Öl, Bauschutt, Metallschrott und Haushaltsmüll, alles durcheinander. Der Mann stieg aus, betrachtete die Müllhalde und wollte gerade wieder ins Auto steigen, als er etwas sah, das ihn stutzen ließ.
Zunächst wollte er seinen Augen nicht trauen. Dann verließ er den Wagen und ging langsam ein paar Schritte näher, blieb abrupt stehen, schlug die Hand vor den Mund und machte einen Schritt zurück.
»Ruf die Polizei!«, stieß er hervor, eilte zum Auto und sank leichenblass auf dem Fahrersitz zusammen.
»Da liegt jemand . . . jemand ist dort . . .«
Ihm versagte die Stimme, und er nickte in Richtung Müllplatz. Die