Thoreaus kurze Gestalt zeigte hängende Schultern und eine auffallend flache Brust. Seine Gesichtsfarbe war hell, die Stirn nicht besonders hoch oder breit, aber voll Energie. Die Augen waren tiefblau, seine Lippen etwas vorstehend. In späteren Jahren trug er einen Vollbart. Seine Sinne waren wunderbar ausgebildet. Sie waren ihm die Eingangspforten zur Seele. Er hielt sie offen und unbefleckt. Er sah eine Wasserlilie oder ein Wasserläuferinsekt in Entfernungen, wo kein anderer sie zu erblicken vermochte. Er roch den Dampf einer Tabakspfeife oft eine Viertelmeile weit. Er konnte in der tiefsten Dunkelheit den Weg durch die Wälder finden. Es war ihm ein leichtes, die Höhe eines Baumes mit den Augen genau zu messen. Das Gewicht eines Schweines oder einer Kuh konnte er angeben wie ein Viehhändler. Die Entfernung wusste er zu schätzen wie ein Indianer. Der schlechte Geruch, den nachts die Wohnhäuser ausströmen, war ihm zuwider. Täglich lehrte ihn die Natur Neues. Burroughs sagt mit Recht: ,,Thoreau erforschte nicht so sehr die Natur wie das Übernatürliche; er schaute nicht die Natur an, sondern durch sie hindurch, darum machte er im naturwissenschaftlichen Sinne auch keine grossen Entdeckungen.“ Allerdings: er beobachtete jede Blume, jeden Vogel, die Ameise so gut wie die Bisamratte oder das Murmeltier. Er fühlt mit erstarrendem Finger durch den Schnee nach Pflanzen und untersucht sie unter dem Wasserspiegel. Er scheut keine Mühe, die wiederkehrenden Wasservögel zu belauschen und kriecht deswegen über Hügel und Sümpfe. Aber hinter all diesen Beobachtungen und Tatsachen sieht er die kosmischen Gesetze. Er ist betrübt, wenn er erkennt, dass kein Mensch flink genug ist, um bei der „ersten Frühlingsstunde zugegen zu sein“. Etwas wie ,,Grösse“ kennt er nicht. Der Waldenteich ist ihm ein kleiner Ozean und der atlantische Ozean ein grosser Waldenteich. Alle seine Beobachtungen trägt er in sein Tagebuch ein. Er hat ein Verzeichnis der Pflanzen, die an einem bestimmten Tage blühen werden. Wasserlilien, Gentian und Immergrün erfreuen sich seiner besonderen Vorliebe. Er entzückt sich am Echo, „an des Waldes Stimme“. Mit Betrübnis sieht er, wie man überall die Bäume fällt. Gottlob! Die Wolken am Himmel konnte man ihm nicht abhacken!
Mit den Tieren stand er auf fast ebenso vertrautem Fusse. Hören wir, was Emerson darüber sagt: ,,Thoreau konnte unbeweglich stundenlang auf einem Felsen sitzen bleiben, bis die Tiere, die vor ihm geflohen waren, Vogel, Reptil oder Fisch, zurückkehrten und ihre Gewohnheiten wieder aufnahmen, ja, von Neugier getrieben, näher kamen, um ihn zu beobachten.“ Wir würden es kaum glauben, wenn nicht Emerson es wäre, der weiterhin sagt: „Schlangen wanden sich um seine Beine, die Fische schwammen auf ihn zu, und liessen sich von ihm aus dem Wasser nehmen, die Vögel setzten sich auf seine Schultern (oder auf das Holz, das er in seinen Armen zur Hütte trug) und Eichhörnchen liefen ihm über die Füsse, wenn das gerade der nächste Weg war.“ Die Erde war für ihn kein Gegenstand kalter Beobachtungen, sondern ein grosses, lebendes Wesen, und alles, was sie gebar, liebte er. „Gott, ich danke Dir,“ schreibt er in sein Tagebuch, „ich bin Deiner Gnade unwürdig. Und doch ist die Welt für mich vergoldet, hohe Feiertage sind mir bereitet und mit Blumen ist mein Pfad bestreut! O, halte meine Sinne rein!“ . . . Die einfachsten Töne waren ihm die schönste Musik. Das Bellen eines Hundes in der Nacht, ja selbst das Summen eines Telegraphendrahtes konnte ihn poetisch inspirieren. Wenn der Sturmwind um seine Hütte brauste, erklangen ihm Symphonien, und wenn vom Dorf her leise die Klänge einer Harmonika zu ihm herüberschallten, war er diesem Spielmann dankbar, weil er fühlte, dass durch dessen Musik seine Existenz vertieft wurde. Man denkt unwillkürlich an Nietzsches Wort: „Wie wenig gehört zum Glücke: Der Ton eines Dudelsacks“. . .
Und doch: zum dauernden Glück bedurfte Thoreau mehr. Vor allen Dingen — Freundschaft. Nach ihr sehnte er sich sein Leben lang. Zahlreiche Stellen in seinem Tagebuch weisen darauf hin. Er will nichts weiter von seinen Freunden „als Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, ein Gran wirklicher Hochachtung, eine Gelegenheit, einmal im Jahre die Wahrheit zu sprechen.“ Und doch — wo waren die Freunde:
„ Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit.
„ Wo bleibt Ihr Freunde? Kommt! ’st Zeit! ’s ist Zeit!“
Sie laden ihn zu Gast, doch „sie zeigen sich nicht“. Er „grämt sich, verhungert in ihrer Nähe“. Sie behandeln ihn derart, dass er sich „tausend Meilen weit fort“ fühlt. „Ich verlasse meine Freunde beizeiten. Ich gehe fort von ihnen, und liebkose mein Freundschaftsideal.“ ,,Wie kommt’s,“ ruft er aus, „dass ich immer wieder solch hohe Anforderungen an die Menschheit stelle und so regelmässig enttäuscht werde? Wissen meine Freunde, wie sehr enttäuscht ich bin? Ist alles mein Fehler? Bin ich zur Grossmut, zur Selbstlosigkeit unfähig? Jede andere Anklage könnte ich eher gegen mich erheben!“ ,,So ungefähr,“ schreibt Thoreau, „würde ich als Freund zum Freunde sprechen: Nie erbat ich Deine Erlaubnis, Dich lieben zu dürfen. Ich besitze das Recht dazu. Ich liebe Dich nicht als etwas Individuelles, das Dir selbst gehört, sondern als etwas Universelles, Liebenswertes, das ich entdeckt habe. O, was für Gedanken ich über Dich hege! Du bist wahrhaft lauter, Du bist unendlich gut. Dir kann ich vertrauen in alle Ewigkeit. Ich wusste nicht, dass des Menschen Seele so reich sei.“ . . . Ja, sein Freundschaftsideal fand er wohl selten verwirklicht. Vielleicht nicht einmal ganz in Emerson. 1853 schreibt er in sein Tagebuch: „Unterhielt mich oder vielmehr versuchte mich mit R. W. E. zu unterhalten. Verlor Zeit, ja fast meine Identität. Er opponierte dort, wo es gar keine Meinungsverschiedenheiten gab, sprach in den Wind und ich verlor meine Zeit, indem ich versuchte mir einzubilden, nicht ich, sondern irgend ein anderer opponiere ihm.“ Da mochte der Thoreau, der sagte: „Ein Wort soll vom Freund zum Freunde gehen wie der Blitz von Wolke zu Wolke,“ sich wohl „tausend Meilen fort“ fühlen.
Frauen spielen in Thoreaus Leben keine Rolle. Eine „Jugendliebe“, die von manchen Biographen ausführlicher geschildert wird, ist ebenso uninteressant wie unbewiesen. Mit einem jungen Mädchen sich nur deshalb eine halbe Stunde lang zu unterhalten, weil sie „regelmässige Gesichtszüge“ hatte, erschien ihm ebenso zwecklos wie der Besuch von Gesellschaften. Er liebte es, allein zu sein: ,,Der ist ein reicher Mann und geniesst die Früchte des Reichtums, der immerdar im Sommer und Winter an seinen eigenen Gedanken sich erfreuen kann.“ Seine Einsamkeit, sagt einer seiner Biographen, war Selbstverteidigung ohne Zweifel. Sein Genius konnte so wenig wie Schmetterlingsflügel die Berührung rauher Hände vertragen.“ Doch je mehr er sich in die Natur versenkte und erkannte, welche Leidenschaften in ihr sich offenbarten,