„Nein!“
Bumble war starr vor Erstaunen.
„Er muss verrückt geworden sein,“ bemerkte Mrs. Sowerberry.
„’S ist keine Verrücktheit, Ma’am,“ sagte Bumble; „’s ist das Fleisch!“
„Das Fleisch!“
„Ja, ja, Ma’am! Sie haben ihn überfüttert, Ma’am. Hätten Sie ihm nichts als Haferbrei gegeben, so wäre er nimmermehr so geworden.“
Mrs. Sowerberry machte sich wegen ihrer Gutherzigkeit und Freigebigkeit die bittersten Vorwürfe, so unschuldig in Gedanken, Worten und Werken sie auch war.
Bumble, erklärte, dass nur Gefängniss und sodann strenge Diät den rebellischen Sinn des kleinen Galgenstricks würden bändigen können, öffnete die Thür, zog Oliver heraus, begrüsste ihn mit einigen nachdrücklichen Ohrfeigen, und rückte ihm sein entsetzliches Vergehen vor.
„Er schimpfte meine Mutter,“ sagte Oliver ohne alle Zeichen von Scheu vor dem Gewaltigen.
„Und wenn er das auch that, du undankbarer Bösewicht,“ versetzte Mrs. Sowerberry. „Sie hat’s verdient, was er von ihr gesagt hat, und noch viel mehr.“
„Nein, nein!“ rief Oliver. „’S ist eine Lüge.“
Mrs. Sowerberry brach in eine Thränenflut aus, die dem Gatten, der inzwischen zu Hause gekommen war, keine Wahl liess. Denn wenn er nicht auf der Stelle Oliver nachdrücklich gezüchtigt hätte, so würde er sich, gemäss allen Ehezänkereiregeln, als eine Nachtmütze, ein liebloser Ehemann, ein Ungeheuer gezeigt haben. So ungern er es daher auch thun mochte, er peitschte Oliver dermassen ab, dass die nachträgliche Anwendung des Rohrs Mr. Bumble’s jedenfalls sehr unnöthig war. Oliver wurde darauf bei Wasser und Brod wieder eingesperrt, und spät Abends unter Noah’s unbarmherzigem Gespött zu Bett gewiesen.
Und erst hier liess er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte allen Spott und Hohn mit hartnäckiger Verachtung, die schmerzlichsten Streiche ohne Schrei ertragen, und würde nicht geweint haben, wenn man ihn lebendig geröstet hätte; ein solcher Stolz war in seiner Brust erwacht. Nun aber, da er allein und gänzlich sich selber überlassen war, fiel er auf die Knie nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte solche Thränen, wie Gott sie den Betrübten und Geängsteten zur Erleichterung ihres Herzens sendet, wie nur wenige menschliche Wesen, so jung an Jahren als Oliver, sie zu vergiessen Ursachen hatten.
Es währte lange, bevor er sich wieder erhob. Das Licht war tief hinuntergebrannt, er horchte und blickte vorsichtig umher, öffnete leise die Thür und sah hinaus. Die Nacht war finster und kalt. Die Sterne schienen ihm weiter von der Erde entfernt zu sein, als er sie je gesehen; die Bäume, von keinem Winde bewegt, standen wie Geister da. Er verschloss die Thür wieder, knüpfte seine wenigen Habseligkeiten in ein Taschentuch, und setzte sich auf eine Bank, um den Anbruch des Tages zu erwarten.
Mit dem ersten durch die Ritzen der Fensterladen eindringenden Lichtstrahle stand er auf, öffnete die Thür zum zweiten Male, blickte furchtsam umher, zögerte ein paar Augenblicke, trat hinaus, und ging, ungewiss, wohin er sich wenden sollte, rasch vorwärts. Nach einiger Zeit gewahrte er, dass er sich ganz in der Nähe des ländlichen Hauses befände, in welchem er seine ersten Kinderjahre verlebt hatte. Es war Niemand zu hören oder zu sehen; er blickte in den Garten hinein. Einer seiner kleinen, weit jüngeren Spielkameraden reinigte ein Beet vom Unkraut. Sie hatten mit einander gar oft Hunger, Schläge und Einsperrung erduldet.
„Pst! Dick!“ rief Oliver.
Der Knabe lief herbei und streckte ihm die abgemagerten Hände durch die Gitterthür entgegen.
„Ist schon Jemand auf, Dick?“
„Keiner, als ich.“
„Sag’ ja nicht, dass du mich gesehen hast, Dick; ich bin fortgelaufen; konnt’s nicht mehr aushalten, und will mein Glück in der Welt versuchen. Ich muss weit fort von hier; weiss nicht wohin. Wie blass du aussiehst!“
„Ich habe den Doctor sagen hören, dass ich sterben müsste. Ach, das ist schön, dass du hier bist! Aber halt’ dich nicht auf; lauf’ fort!“
„Ja, ja, leb’ wohl! Ich weiss gewiss, wir sehen uns wieder, Dick. Du wirst noch recht glücklich werden.“
„Das hoff’ ich — wenn ich todt bin; eher nicht. Ich weiss es, Oliver, der Doctor hat Recht; denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich niemals sehe, wenn ich aufwache. Leb’ wohl, Oliver; geh’ mit Gott! Gottes Segen begleite dich!“
Oliver hatte noch nie des Himmels Segen auf sich herabrufen hören, und nie vergass er diese Segnung von den Lippen eines Kindes unter allen Leiden, Sorgen, Mühen, Kämpfen und Wechselschicksalen seines Lebens.
Achtes Kapitel.
Oliver geht nach London, und trifft mit einem absonderlichen jungen Gentleman zusammen.
Oliver lief ohne Rast und Ruhe, bis er um Mittag bei einem Meilensteine stilstand, auf dem die Entfernung Londons angegeben war. Dort konnte man ihn nicht finden, er hatte oft sagen hören, dass die unermessliche Stadt zahllose Mittel zum Fortkommen darböte, sein Entschluss war gefasst; er machte sich bald wieder auf den Weg, und gedachte nun erst der Schwierigkeiten, die er zu überwinden haben würde, um an sein Ziel zu gelangen. Er hatte ein grobes Hemde, zwei Paar Strümpfe, eine Brodrinde und einen Penny in seinem Bündel — ein Geschenk Mr. Sowerberry’s nach einem Begräbnisse, bei welchem er sich dessen ungewöhnliche Zufriedenheit verdient hatte. Er sann vergeblich darüber nach, wie er mit so geringen Mitteln London erreichen solle — und trabte weiter.
Nachdem er zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, lenkte er auf eine Wiese ein und legte sich in einem Heuhaufen zur Ruhe nieder. Er machte am zweiten Tage abermals zwölf Meilen, verwendete seinen Penny für Brod, übernachtete auf ähnliche Weise, und erhob sich am dritten Morgen fast erfroren und mit erstarrten Gliedern, so dass er sich kaum von der Stelle bewegen konnte.
Die Strasse wand sich hier einen ziemlich steilen Hügel hinauf, und er flehete die Aussenpassagiere einer Postkutsche um eine Gabe an. Nur Einer beachtete ihn, rief ihm zu, er möge warten, bis man oben angelangt wäre, und begehrte darauf, zu erfahren, wie weit er um einen halben Penny mitlaufen könne. Oliver musste nach der grössten Anstrengung doch bald zurückbleiben, und der Mildthätige steckte sein Geldstück wieder in die Tasche und erklärte ihn für einen faulen Schlingel, der keine Freigebigkeit verdiene. Dahin rollte die Postkutsche, und liess nur eine Staubwolke zurück.
In manchen Dörfern waren Pfosten mit Tafeln errichtet, auf welchen scharfe Drohungen gegen alle Bettler zu lesen waren, und Oliver eilte furchtsam weiter; in andern, wenn er etwa vor einem Gasthause mit sehnsüchtigen Blicken stillstand, hiess man ihn sich davon machen, wenn er nicht als ein Dieb eingesperrt werden wollte. Aus vielen Häusern vertrieb ihn die Drohung, dass man die Hunde loslassen werde, wenn er sich nicht sofort entferne.
Es würde ihm ohne Zweifel ergangen sein, wie seiner unglücklichen Mutter, wenn sich nicht ein menschenfreundlicher Schlagbaumwärter und eine gutherzige Frau seiner angenommen hätten. Jener erquickte ihn durch ein, wenn auch nur aus Brod und Käse bestehendes Mittagsmahl; und diese, die einen schiffbrüchigen, sie wusste nicht wo umherirrenden Grosssohn hatte, gab ihm, was ihre Armuth vermochte, und obenein, was mehr war für Oliver, und ihn alle seine Leiden auf eine Zeitlang vergessen liess, freundliche Worte und mitleidige Zähren.
Am siebenten Morgen nach Sonnenaufgang erreichte er mit wunden Füssen die kleine Stadt Barnet. Es regte sich fast noch Niemand, die Wenigen, welche sich blicken liessen, kümmerten sich nicht um ihn, er wagte es nicht, sie um eine Gabe anzusprechen, und setzte sich auf eine Bank vor einer Thür.
Nach einiger Zeit ging ein Knabe an ihm vorüber, sah sich nach ihm um, ging weiter, sah sich zum zweiten Male nach ihm um, stand still, kehrte zurück und redete ihn an.
Er mochte ungefähr so alt sein, wie Oliver selbst, der nie einen so absonderlichen Kauz gesehen. Er hatte eine Stumpfnase und