Die urchristliche Mission ist unübersehbar Missio Dei. In Apg 1–15 initiiert Gott selbst jeden neuen missionarischen Vorstoß in die unerreichte Völkerwelt.96 Die ganze Apostelgeschichte ist von einer trinitarischen Sendungstheologie durchdrungen: Durch vielfältige Kraftwirkungen des Heiligen Geistes offenbart sich der erhöhte Herr, Jesus Christus, suchenden Menschen, damit diese den lebendigen Gott kennenlernen können. Die Kirche wandelt auf den Spuren des Heiligen Geistes, gibt Zeugnis von Christus und hat so Anteil an der Missio Dei.
2.6 Kopernikanische Wende?
Wir können nun die geschichtlichen Ausführungen und die biblische Betrachtung in Bezug zueinander setzen. Der Blick in das Alte und das Neue Testament zeigt, dass es sich bei der Missio Dei nicht um ein beliebig ausgestaltbares Konzept handelt. Es kann nicht mit je eigenen Anschauungen über Zweck und Ziel der christlichen Mission gefüllt werden, ohne wesentliche Inhalte einer biblischen Sendungstheologie zu ignorieren. Das aber ist in der ökumenischen Missionsgeschichte geschehen und hat so weit geführt, dass die Missio Dei sogar als Schlagwort gegen die Mission verwendet wurde. Wenn in der evangelikalen Missiologie das Konzept der Missio Dei in jüngster Zeit vermehrt aufgegriffen wird, dann wird es wichtig sein, der Missio Dei eine im Sendungsverständnis Alten und Neuen Testaments verwurzelte Gestalt zu geben. Nur so kann vermieden werden, dass das Konzept allen ehrenhaften Bemühungen zum Trotz die Mission unterminiert, statt sie zu fördern. Als Karl Hartenstein die Formulierung Missio Dei einführte, hoffte er „die Mission vor Säkularisierung und Verflachung schützen zu können und sie ausschließlich für Gott zu reservieren“.97 Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Missionstheologie von Willingen gab mit ihrer Vieldeutigkeit Anlass zu ursprünglich nicht beabsichtigten Entwicklungen. Das zeigt, wie wichtig es ist, sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Schlagworte man gebraucht und wie man sie inhaltlich füllt.
Unterschiedliche Lesarten
Willingen wird mitunter als „kopernikanische Wende“ in der Missionstheologie bezeichnet.98 Dieser Ausdruck scheint mir hoch gegriffen, auch wenn von Willingen als einer „der theologisch fruchtbarsten Konferenzen“ gesprochen werden kann.99 Entscheidend war, dass das Konzept der Missio Dei die christliche Mission im Wesen Gottes verankerte. Mit dieser Verankerung wurde die westlich angeführte Mission theologisch ihres Überlegenheitsgefühls beraubt, weil sie ihre Existenz nicht mehr mit ihren Erfolgen begründen konnte, sondern der Grund der Mission außerhalb ihrer selbst, nämlich in Gott, lag.100
Die Missio Dei entfaltete eine beträchtliche Wirkungsgeschichte.101 Nach Willingen wurden in der ökumenischen Mission das verheißungsgeschichtliche und das trinitarische Missionsmodell zu einem „neuen“ Missionsverständnis mit humanistischem Programm verschmolzen. Man war nun nicht mehr, wie im heilsgeschichtlichen Modell, auf das kommende Reich ausgerichtet. Es ging jetzt darum, dem Reich Gottes auf Erden zum Durchbruch zu verhelfen. Die Mittel dazu waren nicht mehr die Verkündigung des Evangeliums, sondern der interreligiöse Dialog und der politische Kampf.102 Neuere ökumenische Missionserklärungen gehen wie selbstverständlich von der Missio Dei aus.103 Allerdings wird diese nicht mehr so radikal interpretiert wie in den 1960er- und 70er-Jahren. So versuchte das Dokument Mission und Evangelisation – eine ökumenische Erklärung aus dem Jahr 1982 ein neues Gleichgewicht zwischen Verkündigung und Verantwortung in der Welt zu erreichen.104
Die evangelikale Leseart der Missio Dei unterscheidet sich bis heute wesentlich von der ökumenischen. Hier entwickelte sich die Missionstheologie erst einmal ganz im Rahmen des heilsgeschichtlichen Modells, wie Walter Freytag und Karl Hartenstein es vertraten. Die Missio Dei – sowohl als Begriff als auch der Sache nach – spielte in der evangelikalen Bewegung bis zur Jahrtausendwende keine wesentliche Rolle. Das zeigt sich an den großen evangelikalen Missionserklärungen:105
In der Lausanner Verpflichtung (1974) ist in Artikel 1 vom Plan Gottes die Rede. Gott „hat sein Volk aus der Welt herausgerufen und sendet es zurück in die Welt, damit sie seine Diener und Zeugen sind.“ Im Zentrum des Artikels steht der sendende Gott, der die Kirche zum Zeugendienst beruft. Eine Begründung der Mission aus dem Wesen Gottes kommt nicht ins Blickfeld. Artikel 15 verortet die Mission in der Eschatologie und stellt sich damit in die Tradition des heilsgeschichtlichen Modells von Walter Freytag und Karl Hartenstein.
Im Manila Manifest (1989) wird der missionarische Auftrag der Kirche umfassend begründet und entfaltet. Absatz 5 mit der Überschrift „Gott, der Evangelist“ beginnt mit den Worten: „Die Schrift erklärt, dass Gott selbst der eigentliche Evangelist ist.“ 106 Es wird festgehalten, dass Evangelisation ohne den Heiligen Geist nicht möglich ist. Mehr ist in dem Absatz und im ganzen übrigen Manifest nicht in Erfahrung zu bringen. Eine systematische Einfügung der Missio Dei in den Missionsauftrag ist nicht vorhanden.
In der Kapstadt-Verpflichtung (2010) wird erstmals in einer repräsentativen evangelikalen Missionserklärung die Sendung der Kirche in der Missio Dei verankert. Die missionarische Aufgabe wird als Dienst an der Welt definiert, und dieser Dienst ist möglich, weil Gott uns zuerst geliebt hat.107
Erst in den neuesten evangelikalen Versuchen, ein missionales Verständnis von Kirche und Mission zu entwickeln, wird auf die Missio Dei zurückgegriffen. So entfaltet der Missionswissenschaftler und Gemeindegründer Johannes Reimer den Gemeindebau trinitarisch und schreibt der Missio Dei eine wichtige Grundfunktion zu. Er nimmt den ökumenischen Gedanken der Missio Dei auf, der besagt, dass Gott sich in seiner Liebe der Welt zuwendet: „Es geht Gott um die Welt, und um seine geliebte Welt zu gewinnen, bedient er sich der Gemeinde. Sie ist daher Gottes Missionsinstrument und von ihrem Wesen her missionarisch.“ 108 Der heilsgeschichtliche Ansatz einerseits und die verheißungsgeschichtlichen und trinitarischen Ansätze anderseits vereinen sich bei Reimer zu einer missionalen Theologie evangelikaler Leseart, die auf theologische Abschottung verzichtet.109
Missionales Potenzial
Die Diskussion um die Missio Dei hat die evangelische Missionstheologie zweifellos einen Schritt weitergebracht. „Wir sind von einer ekklesiologischen zu einer trinitarischen Missiologie fortgeschritten“, bemerkt David Bosch.110 Durch eine trinitarische Missionsbegründung wird die Sendung der Kirche in Gott selbst verankert. Um eine kopernikanische Wende handelt es sich nicht. Es scheint mir angebrachter, von einem Fortschritt oder einem Potenzial zu sprechen. Abschließend möchte ich die Diskussion um die Missio Dei mit je einer Erkenntnis über Gott, die Welt und die Kirche versehen und damit das missionale Potenzial des Konzepts unterstreichen:
Erstens hat christliche Mission ihren Ursprung in Gottes liebender Selbstverpflichtung gegenüber der Welt. Bosch gibt diese Tatsache treffend wieder: „Mission hat ihren Ursprung weder in der offiziellen Kirche noch in speziellen kirchlichen Gruppen. Sie hat ihren Ursprung in Gott. Gott ist ein missionarischer Gott, ein Gott, der Grenzen auf die Welt hin überschreitet.“ Mission heißt: „Gott gibt sich selbst auf, wird Mensch, legt seine göttlichen Vorrechte ab und nimmt unsere Menschheit an. Gott kommt in die Welt, in seinem Sohn und seinem Geist. Das bedeutet, dass der dreieinige Gott das Subjekt der Mission ist.“ Und noch deutlicher: „Mission hat ihren Ursprung im Vaterherzen Gottes. Er