Er schwieg einen Augenblick, dann begann er wieder leichteren Tons: «Nein, Sie können nicht in Ihre Wohnung zurück. Die Persickes sind heute nacht dort gewesen, diese Parteileute über mir, wissen Sie. Die Wohnungsschlüssel sind in ihrem Besitz, sie werden Ihr Heim jetzt unter ständiger Beobachtung halten. Dort wären Sie wirklich völlig nutzlos in Gefahr.»
«Aber ich muß dort sein, wenn mein Mann zurückkommt!» bat Frau Rosenthal flehend.
«Ihr Mann», sagte der Kammergerichtsrat Fromm freundlich beruhigend, «Ihr Mann kann Sie vorläufig nicht besuchen. Er befindet sich zur Zeit im Untersuchungsgefängnis Moabit unter der Beschuldigung, mehrere Auslandsguthaben verheimlicht zu haben. Er ist also in Sicherheit, solange es gelingt, das Interesse der Staatsanwaltschaft und der Steuerbehörde an diesem Verfahren wachzuhalten.»
Der alte Rat lächelte weise, er sah Frau Rosenthal ermutigend an und nahm dann seine Wanderung wieder auf.
«Aber woher können Sie wissen?» rief Frau Rosenthal aus.
Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. Er sagte: «Ein alter Richter hört immer dies und das, auch wenn er nicht mehr im Amte ist. Es wird Sie auch interessieren, daß Ihr Mann einen tüchtigen Anwalt hat und verhältnismäßig anständig versorgt wird. Den Namen und die Adresse des Anwalts sage ich Ihnen nicht, er wünscht keine Besuche in dieser Sache ... »
«Aber vielleicht kann ich meinen Mann in Moabit besuchen!» rief Frau Rosenthal aufgeregt aus. «Ich könnte ihm frische Wäsche bringen – wer sorgt denn dort für seine Wäsche? Und Toilettensachen und vielleicht etwas zu essen ... »
«Liebe Frau Rosenthal», sagte der Kammergerichtsrat a. D. und legte seine altersfleckige Hand mit den hohen blauen Adern fest auf ihre Schultern. «Sie können Ihren Marin ebensowenig besuchen, wie er Sie besuchen kann. Ein solcher Besuch nützt ihm nichts, denn Sie kommen nicht bis zu ihm, und er schadet nur Ihnen.»
Er sah sie an.
Plötzlich lächelten seine Augen nicht mehr, auch seine Stimme klang streng. Sie begriff, daß dieser kleine, sanfte gütige Mann einem unerbittlichen Gesetz in sich folgte, wohl dieser Gerechtigkeit, von der er gesprochen hatte.
«Frau Rosenthal», sagte er leise, «Sie sind mein Gast – solange Sie die Gesetze der Gastfreundschaft befolgen, von denen ich Ihnen gleich ein paar Worte sagen werde. Dieses ist das erste Gebot der Gastfreundschaft: Sobald Sie eigenmächtig handeln, sobald einmal, ein einziges Mal nur, die Tür dieser Wohnung hinter Ihnen zugeschlagen ist, öffnet sich diese Tür Ihnen nie wieder, ist Ihr und Ihres Mannes Name für immer ausgelöscht hinter dieser Stirn. Sie haben mich verstanden?»
Er berührte leicht seine Stirn, er sah sie durchdringend an.
Sie flüsterte leise ein «Ja».
Erst jetzt nahm er die Hand wieder von ihrer Schulter. Seine vor Ernst dunkel gewordenen Augen würden wieder heller, langsam nahm er seine Wanderung von neuem auf. «Ich bitte Sie», fuhr er leichter fort, «das Zimmer, das ich Ihnen gleich zeigen werde, bei Tage nicht zu verlassen, auch sich dort nicht am Fenster aufzuhalten, Meine Bedienerin ist zwar zuverlässig, aber ... » Er brach unmutig ab, er sah jetzt nach dem Buch unter der Leselampe hinüber. Er fuhr fort: «Versuchen Sie es wie ich, die Nacht zum Tage zu machen. Ein Schlafmittel werde ich Ihnen täglich hineinschicken. Mit Essen versorge ich Sie des Nachts. Wenn Sie mir jetzt folgen wollen?»
Sie folgte ihm auf den Korridor hinaus. Sie war jetzt wieder etwas verwirrt und verängstigt, ihr Gastgeber war so völlig verändert. Aber sie sagte sich ganz richtig, daß der alte Herr seine Stille über alles liebte und kaum noch den Umgang mit Menschen gewohnt war. Er war jetzt ihrer müde, er sehnte sich nach seinem Plutarch zurück, wer das immer auch sein mochte.
Der Rat öffnete eine Tür vor ihr, schaltete das Licht ein. «Die Jalousien sind geschlossen», sagte er. «Es ist hier auch verdunkelt, lassen Sie das bitte so, es könnte Sie sonst einer aus dem Hinterhaus sehen. Ich denke, Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen.»
Er ließ sie einen Augenblick dies helle, fröhliche Zimmer betrachten mit seinen Birkenholzmöbeln, einem vollbesetzten, hochbeinigen Toilettetischchen und einem Bett, das noch einen «Himmel» aus geblümtem Chintz besaß. Er sah das Zimmer an wie etwas, das er lange nicht gesehen und nun wiedererkannte. Dann sagte er mit tiefem Ernst: «Es ist das Zimmer meiner Tochter. Sie starb im Jahre 1933 – nicht hier, nein, nicht hier. Ängstigen Sie sich nicht!»
Er gab ihr rasch die Hand. «Ich schließe das Zimmer nicht ab, Frau Rosenthal», sagte er, «aber ich bitte Sie, sich jetzt sofort einzuriegeln. Sie haben eine Uhr bei sich? Gut! Um zehn Uhr abends werde ich bei Ihnen klopfen. Gute Nacht!»
Er ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um. «Sie werden in den nächsten Tagen sehr allein sein mit sich, Frau Rosenthal. Versuchen Sie, sich daran zu gewöhnen. Alleinsein kann etwas sehr Gutes bedeuten. Und vergessen Sie nicht: Es kommt auf jeden Überlebenden an, auch auf Sie, grade auf Sie! Denken Sie an das Abriegeln!»
Er war so leise gegangen, so leise hatte er die Tür geschlossen, daß sie erst zu spät merkte, sie hatte ihm weder gute Nacht gesagt noch gedankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon während des Gehens besann sie sich. Sie drehte nur den Riegel zu, dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl nieder, ihre Beine zitterten. Aus dem Spiegel des Toilettetischchens schaute sie ein bleiches, von Tränen und Wachen gedunsenes Gesicht an. Sie nickte langsam, trübe diesem Gesicht zu.
Das bist du, Sara, sagte es in ihr. Lore, die jetzt Sara genannt wird. Du bist eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen, immer tätig. Du hast fünf Kinder gehabt, eines lebt nun in Dänemark, eines in England, zwei in den USA, und eines liegt hier auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nennen. Aus der Lore ist immer mehr eine Sara geworden; ohne daß sie es wollten, haben sie mich zu einer Tochter meines Volkes gemacht, nur zu seiner Tochter. Er ist ein guter, feiner, alter Herr, aber so fremd, so fremd ... Ich könnte nie richtig mit ihm reden, wie ich mit Siegfried gesprochen habe. Ich glaube, er ist kalt. Trotzdem er gütig ist, ist er kalt. Selbst seine Güte ist kalt. Das macht das Gesetz, dem er untertan ist, diese Gerechtigkeit. Ich bin immer nur einem Gesetz untertan gewesen: die Kinder und den Mann liebzuhaben und ihnen vorwärtszuhelfen im Leben. Und nun sitze ich hier bei diesem alten Mann, und alles, was ich bin, ist von mir abgefallen. Das ist das Alleinsein, von dem er sprach. Es ist jetzt noch nicht halb sieben Uhr morgens, und vor zehn Uhr abends werde ich ihn nicht wiedersehen. Fünfzehn und eine halbe Stunde allein mit mir – was werde ich alles erfahren über mich, das ich noch nicht wußte? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glaube, ich werde schreien, noch im Schlafe werde ich schreien vor Angst! Fünfzehn und eine halbe Stunde! Die halbe Stunde hätte er noch bei mir sitzen können. Aber er wollte durchaus in seinem alten Buch lesen. Menschen bedeuten ihm trotz all seiner Güte nichts, ihm bedeutet nur seine Gerechtigkeit etwas. Er tut es, weil sie es von ihm verlangt, nicht um meinetwillen. Es hätte erst Wert für mich, wenn er’s um meinetwillen täte!
Sie nickt diesem gramentstellten Gesicht Saras im Spiegel langsam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zimmer meiner Tochter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier! schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert. Wie er es sagte. Sicher ist die Tochter auch durch – die gestorben, aber er wird nie darüber sprechen, und ich werde ihn auch nie zu fragen wagen. Nein, ich kann nicht in diesem Zimmer schlafen, es ist grauenvoll, unmenschlich. Er soll mir die Kammer seiner Bedienerin geben, ein Bett noch warm vom Leib eines wirklichen Menschen, der darin schlief. Ich kann hier nie schlafen. Ich kann hier nur schreien ...
Sie tippt die Döschen und die Schächtelchen auf dem Toilettetisch an. Vertrocknete Cremes, krümeliger Puder, grünbelaufene Lippenstifte – und sie ist seit 1933 tot. Sieben Jahre. Ich muß etwas tun. Wie es jagt