Gab einer von ihnen den Ton an? Wenn es um definitive Entscheidungen ging, behielt William in der Regel die Oberhand, weil er als Kriminalreporter über die größere Erfahrung verfügte.
Als er am Montagmorgen, dem 24. Januar, sein Büro betrat, befand sich Ivar bereits im wenige Kilometer entfernten Gerichtsgebäude in der Munkegata, in dem der Strafverteidiger in dieser Woche versuchte, die Schöffen davon zu überzeugen, dass es im Fall des Mannes, der seine Freundin vergiftet hatte, eine Reihe mildernder Umstände gab. Obwohl das Urteil bereits festzustehen schien, war der Prozess so spektakulär, dass viele Journalisten aus Oslo angereist waren, um täglich von ihm zu berichten.
William stellte die Kaffeetasse vorsichtig auf einen freien Fleck zwischen die Papierhaufen. Dann setzte er sich auf den Stuhl, rollte näher an den Schreibtisch heran und schaute auf seine Notizen. Es gab keine dringliche Arbeit, nur einige Telefonanrufe mussten erledigt werden. Er hatte Ivar unter anderem versprochen, sich beim Polizeipräsidium nach dem aktuellen Stand im Lade-Mordfall zu erkundigen. Bevor er den Hörer zur Hand nahm, warf er einen Blick in die Tagesausgabe der Zeitung und las im Polizeijournal noch einmal nach, was sich am Samstagabend zugetragen hatte:
23 Uhr 34. Gewaltsamer Ehestreit in Risvollan. Ein Mann fügte seiner einunddreißigjährigen Ehefrau im Streit eine blutende Wunde an der Schläfe zu. Ärztliche Behandlung war nicht nötig. Ob die Frau ihren Mann anzeigen wird, ist ungewiss.
Aus Sicht der Polizei klang das so einfach, dachte William. Nichts über die Hintergründe. Kein Wort davon, dass die Frau nicht zum ersten Mal misshandelt worden war. Keine Erwähnung des Alkoholgestanks in der Wohnung oder der verschreckten Kinder im Türrahmen. Keine Beschreibung ihrer Hilflosigkeit oder der Vergebung seitens Frau Danielsens, die William immer noch unbegreiflich war. Niemand wusste besser als die Mitarbeiter das Sozialamts, dass solch ein Milieu Gift für die Kinder war, doch gab es keinerlei Bestrebungen, Mutter und Kindern eine andere Bleibe anzubieten.
Im Grunde konnte er Solveigs Einstellung gut nachvollziehen. Aber kam Journalisten wie ihm eine Überwachungsfunktion zu? An wen sollten sie sich wenden, wenn die Frau selbst es unterließ, ihren Mann anzuzeigen? An Verwandte des Opfers, an einkommensstarke Freunde des Paares? An motivierte und mitfühlende Leser? An Institutionen wie Sozialamt, Familienberatung oder Kinderschutzbund? (Als wären die unhaltbaren Verhältnisse in vielen Familien nicht allgemein bekannt!) Wann war der Punkt gekommen, an dem man Eltern ihre Kinder wegnehmen musste? Geeignete Pflegeeltern gab es nicht gerade in Hülle und Fülle. Manchmal waren sie die richtige Lösung, doch kam es auch vor, dass die barmherzigen Samariter nicht genügend an dem Wohl der Kinder interessiert waren und sie damit zum Spielball eines bürokratischen Systems machten, dem Verordnungen und Paragrafen wichtiger waren humanitäre Aspekte. Doch andere zu kritisieren war schließlich kein Kunststück. Waren er und Solveig denn bereit, ihr Heim für unglückliche kleine Seelen zu öffnen, mit allen Komplikationen, die das mit sich führte? In der Egogesellschaft war es üblich, dass jeder genug mit seinen eigenen Problemen zu tun hatte. Wenn man von der Arbeit nach Hause kam, verdiente man Ruhe und Frieden und wollte sich nicht mit weiteren Problemen herumschlagen. Und war die Vernachlässigung einzelner Kinder nicht ein Luxusproblem, verglichen mit dem Elend, das in großen Teilen der Welt herrschte?
Ein weiteres Mal musste William sich eingestehen, keine Patentlösung parat zu haben. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Durchwahl von Arne Kolbjørnsen. Während er es klingeln ließ, nippte er an seiner Kaffeetasse und streckte die Beine unter den Schreibtisch. Etwas mit seinem linken Knie war nicht in Ordnung. Hatte er sich doch etwas zugezogen, als er gestern im Schnee gestürzt war?
»Kolbjørnsen!«, bellte es am anderen Ende.
William verstand sofort, dass der Mann mehr als genug zu tun hatte. Eigentlich war es ein Wunder, dass er überhaupt abgehoben hatte. Er sah ihn vor sich, den hartnäckig arbeitenden rothaarigen Polizeibeamten, der die Karriereleiter Stufe für Stufe emporgestiegen war; der seinen Bart abrasiert hatte, nachdem er zum Kommissar befördert worden war; der, wie er selbst, im Stillen seine Arbeit verrichtete, nicht viel Aufhebens um die eigene Person machte, jedoch stets tat, was von ihm erwartet wurde. Im Moment war er mit einem rätselhaften Fall konfrontiert, der sich nicht ohne weiteres lösen ließ, und sein Chef, Nils Storm, erwog sicherlich, die Experten von KRIPOS, dem Zentralorgan der norwegischen Kriminalpolizei, einzuschalten.
»Hier ist William Schrøder. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Aber nein, ich habe mich schon nach Ihrer Stimme gesehnt.« Trotz seiner Vertrauen erweckenden Sachlichkeit schlug Kolbjørnsen zuweilen einen ironischen Ton an, der den meisten Polizisten fremd war. »Sie wollen sicher etwas zum Mord an Vibeke Ordal erfahren, nicht wahr?«
»Richtig geraten. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
»Leider nein.«
»Irgendwelche Spuren muss der Täter doch hinterlassen haben.«
»Aber nicht in Form von Fingerabdrücken auf den Türklinken. Und falls er seinem Opfer im Garten aufgelauert haben sollte, hat der Neuschnee seine Fußspuren unkenntlich gemacht. Alles, was wir gefunden haben, sind ein paar nasse Zigarettenstummel, die an der Hauswand, in der Nähe des Küchenfensters, lagen, aber die können natürlich schon vorher da gewesen sein.«
»Selbst gedrehte Zigaretten?«
»Vermutlich.«
»Sind Sie nicht der Meinung, dass die Zeitung ihre Leser zur Mithilfe aufrufen sollte?«
»Wenn ich das wäre, hätten Sie es erfahren.«
»Was ist mit Østmarka?«
»Sie meinen das Krankenhaus? In der betreffenden Abteilung ist niemand vermisst worden. Außerdem hält es das Personal für sehr unwahrscheinlich, dass einer der Patienten in der Lage sein sollte, eine solche Tat zu verüben und nachher zu vertuschen. Die in Frage kommenden Personen hätten sich in diesem Fall noch länger im Haus des Opfers aufgehalten oder wären durch die Nachbarschaft gestreift. Ein geistig verwirrter Mensch hätte niemals die vielen Vorsichtsmaßnahmen treffen können, die erforderlich waren, um erfolgreich zu sein.«
»Vielleicht hat irgendein abgebrannter Krankenpfleger die Gelegenheit beim Schopf gepackt, weil er wusste, dass man die Patienten, nicht aber die Angestellten verdächtigen würde.«
»Sie sollten Privatdetektiv werden.«
William lächelte. Sie kannten einander ziemlich gut und wussten genau, ab welchem Punkt die Polizei der Presse keine weiteren Informationen liefern konnte. »Ivar Damgård hat ein Gespräch mit der Bankangestellten geführt, die Vibeke Ordal bedient hatte. Leider konnte sie keine Beschreibung des Mannes geben, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Schalterhalle befand.«
»Das ist richtig«, sagte Kolbjørnsen. »Er hatte ihr den Rücken zugekehrt.«
»Und er verließ die Bank unmittelbar nach Frau Ordal.«
»Sieht so aus. Noch mehr Details, die wir Einfallspinsel außer Acht gelassen haben?«
»Ja, die Banknoten. Falls es sich wirklich um neue Scheine gehandelt hat, müssten die Nummern bekannt sein.«
»Vielen Dank für den Hinweis, aber das haben wir schon überprüft. Ausgehend vom nächsten Geldpaket, das bereitlag, wissen wir genau, um welche Nummern es sich handelt.«
»Die