Ein Blick auf die Uhr. Gerade noch Zeit. Los! Hinaus zu dem Pferdeschmeisser! Warum packte man auch ihm alles auf? Achim von Bornim war so wütend, dass er kaum mehr an Ilse dachte. Er stürmte, der Droschke entstiegen, in den nachmittäglich leeren Stallgang und packte einen kleinen, durchdringend pfeifenden Reitburschen am Kragen.
„Sei mal still, Stift! Ist hier ...?“
Der Bengel in dem roten Affenjäckchen feixte und lief bis an das Ende der Stallgasse und stemmte sich aus Leibeskräften gegen den Deckel einer mächtigen Haferkiste. In dem leeren Innern sass, als er sie lüftete, Lüdecke, die Beine gemächlich hochgezogen, den hechtgrauen Zylinder darunter am Boden, ein abgegriffenes Buch vor sich auf den Knieen.
„Das Dumme ist, dass ich in meinem Salon nicht rauchen kann!“ sagte er. „Sonst merken sie’s! Vorhin war schon so ein verdächtiger Mensch da und hat nach mir gefragt. Immer aufgepasst, Fritze! ... Sowie wer kommt, die Klappe zu! Nu ab! ... ’raus mit dem Mammon, Achim? Was? ... Du hast ihn noch nicht? ... Ja, Kinder ... erlaubt mal: ich hab’ meine Zeit auch nicht gestohlen! Wenn ihr mich weghaben wollt, müsst ihr auch was dazutun! ... Die Geschichte hier wird höchst sengerich, kann ich dir sagen! Ich steh’ für nichts, wenn mich die Langeweile hier ’raustreibt. Ich kann doch nicht den ganzen Tag Casanovas Memoiren lesen ... Zültz hat sie mir geborgt ... Überhaupt ... ’ne nette Bibliothek hat der Kerl ... ‚Das Damenregiment im Vatikan‘ ... ‚Trudchens Kümmernisse‘ ... ‚Fiorentina, die rätselhafte Braut‘ .... ‚Die doppelte Ursulinernonne‘ ... ‚Die Geheimnisse des Konak‘ ... ‚Das Pariser Lachkabinett‘ ... ‚Die kuriöse Flohfalle‘ ...“ Überall herum lagen die abgegriffenen Bände. Der Leutnant von Bornim stiess sie mit der Lackstiefelspitze zur Seite. Sein Herz klopfte. Er hatte aus dem oberen Stockwerk Ilses helle Stimme gehört. Er dachte nicht weiter nach. Er stieg zu ihr hinauf. Da stand sie in dem leeren, sogenannten Kontor ihres Vaters in blossem Kopf und einfachem Hauskleid. Sie lachte und gab ihm kameradschaftlich die Hand, als ob sie ihn schon längst erwartet hätte: „Hast du den Lüdecke unten in seiner Kiste gesehen? Ist’s nicht zum Schreien?“
„Nee — zum Weinen ist es!“ sagte der junge Offizier trocken. „Vieles hier ...“
Fräulein von der Zültz setzte sich ihm gegenüber, bückte sich und zupfte sich den Rock nach den Knöcheln zu glatt. Diese kleine Pensionsmädchenbewegung hatte für ihn etwas Rührendes. Noch so viel Wohlerzogenheit hier, unter den Rosskämmen und Grundstückschiebern und Heiratsvermittlern! Sie hob wieder den dunklen, hübschen Kopf und frug: „Du — der Lüdecke muss wohl nach Amerika?“ und das klang schon unbekümmert ... zigeunerisch ... Da war schon der Genius loci ...
„Ja ... Er muss ’rüber! Ein brauner Lappen steht zur Verfügung ... Die Sache ist mir ... Ilse ... Ich hab’ absolut keine Zeit ... weisst du jemand halbwegs Vertrauenerweckenden, der für Geld und gute Worte sein Billett bis heute um sechs Uhr abends besorgt?“
Sie nickte, die Hände über den Knieen verschlungen.
„Wer denn?“
„Ich!“
„Ach so!“ Er sah sie erleichtert an. Dann kamen ihm wieder Bedenken. „Ich weiss nicht, ob ich dir das aufhalsen darf, Ilse! ... Wenn ich mich schon selbst nicht gern da hinstell’ und ein Billett nach Amerika verlang’ ... die Leute kommen da womöglich auf allerhand Gedanken ...“
„Ja ... wenn sie dich in deiner Uniform sehen! Aber ich ... ich binde mir ’nen dicken Schleier vor! Mich kennt überhaupt keine Katze in Berlin!“
„Und dann hör mal, was ich schon gedacht habe? Am Ende macht man sich sogar strafbar, wenn man dem Lüdecke zur Flucht verhilft?“
Ilse strahlte. Ihre Augen glänzten.
„Famos!“ sagte sie, voll Fieber und Entzücken, dass so etwas passierte und sie dabei sein durfte. Womöglich gar etwas Gefährliches! Ein Haschespiel mit dem Staatsanwalt! ... Da war nun wirklich das Zigeunerblut. Sie atmete auf und sah Achim förmlich dankbar an.
„Das ist zu schön, so ’n bisschen Herzklopfen ... Ich mopse mich hier doch so kläglich ... ich bin doch so froh, wenn was los ist ... Ich mache doch so rasend gern dumme Streiche! ... In der Pension, da hab’ ich mal ... Na egal ... also sag mir nur, was ich tun soll ... Stangen? ... Hinter der Passage? ... Querstrasse von der Friedrichstrasse? ... oh ... das find’ ich schon. Ein Billett für den Kaufmann Friedrich Wilhelm Müller aus Bunzlau ...? Du ... Müller ist gut ... Also ich zieh’ dann gleich los ... ich nehm’ die Itta mit ...“
„Ach nee — das lass lieber ... Mit der möchte ich nun nicht gerade gern auf der Strasse ...“
„Wo treff’ ich dich dann?“ Ihr Tatendrang war nicht zu zügeln. Er musste fast lachen. Ein Eifer wie bei einem jungen Jagdhund.
„Um sechs an Kranzlers Ecke!“
„Abgemacht! ...“
Die Linden wogten schwarz von Menschen in der Dämmerung des kalten, regnerischen Märzabends. Angstvolle Gesichter. Halblaute Gespräche. Ein paar Damen hatten Taschentücher in der Hand. Wilder grauer Wolkenflug am Himmel — Eine Stimmung ... feierlich ... ungewiss ... über alles hinaus, was man kannte ... was je dagewesen war ... der alte Herr war immer dagewesen — so lange diese Menschen hier atmeten ... und ihre Väter ... und ihre Grossväter ... seit nahezu hundert Jahren. Man konnte sich die Welt nicht mehr ohne ihn denken. Der Leutnant von Bornim stand in Mütze und die Hände in den Taschen des schwarzen Militärmantels an der Ecke der Friedrichstrasse. Er sagte sich, in einem plötzlichen Zorn: Da drüben geht der Kaiser, dein Kaiser, zur ewigen Ruhe, und du wartest hier auf ein Mädel! ... Nein ... du tust nur deine Pflicht als Sohn und Bruder ... Das ist was anderes ...
Ein Hofwagen fuhr vorbei. Hüte lüfteten sich. Irgend jemand meinte: „Die Fahne weht noch auf dem Schloss“ ... Ein Stimmengeschwirr: ... „Der Kronprinz ist immer noch in Pegli ...“ ...„Mackenzie“ ... „Ja, aber Virchow“ ... „Bei Bismarck sind alle Fenster hell“ ... „Platz, bitte, meine Herrschaften ...“ Hohe Generale drängten sich durch, immer nach Osten, immer nach dem Palais. Alles strebte dorthin ... schaute dorthin ... dachte dorthin ... Er, Achim von Bornim, musste hier bleiben. Gereizt. Voll Ärger. In einer Ungeduld ... Kam sie denn noch nicht? Eine Wärme. Eine Stimmung zwischen Tod und Leben ... der grosse greise Kaiser ... so ein armes kleines Mädchen ... sie und er, Achim von Bornim, so winzig klein in dem, was hier geschah ... Stürmende Dämmerung über den Dächern ... Fegende Regenschauer über die breite Siegesstrasse der Hohenzollern ... Ein angehaltener Atem ...
Da war Ilse. Im einfachen dunklen Mäntelchen. Atemlos. Die Fahrscheine in der Hand. Sie hatte alles besorgt. War etwas enttäuscht. Es war alles am Schnürchen gegangen. So, wie wenn man eine Elle Band kaufte. Gar keine Spur von Gefahr. Kein Grund zum Graulichwerden. Der Herr am Schalter hatte kaum aufgesehen. Aber das nächste Schiff ging erst in drei Tagen. So lange musste der Schächer in der Haferkiste noch ausharren. Sie war jetzt auch ernst, wo alles um sie ernst war. Die Angst der Tausende spiegelte sich auf ihrem schmalen, bräunlichen Gesicht. Es war, wie wenn der Wind über eine Wasserfläche glitt. Sie schwieg und wartete, was Achim jetzt mit ihr anfangen würde. Er hatte das Gefühl eines Unrechts, hier, in dieser Stunde, mit einem Frauenzimmer herumzulaufen ... Etwas vom Offizier kämpfte in ihm dagegen ... gerade weil sie ihm so gefiel ...
„Ich dank’ dir schön, Ilse!“ sagte er. „Am besten ist’s, du fährst jetzt heim und gibst Lüdecke Bescheid! Er muss also die paar Tage noch in der Verborgenheit blühen. Ich komme dann, wenn’s so weit ist, heran und bring’ ihn an die Bahn!“
Ilse Zültz nickte. In einem eifrigen Gehorsam. Ehe sie in die von ihm herangewinkte Droschke kletterte, nestelte sie sich ihren heissen Schleier weg. Sie sah hübsch aus, wie sie da im Laternenschein stand: „Auf Wiedersehen, Achim!“
Eine helle Stimme. Eine Hand streckte sich aus dem Klapperkasten zweiter Güte. Er drückte die kalten kleinen Finger.
„Aus Wiedersehen!“ sagte er und schaute gedankenlos der Droschke nach. Komisches Mädel! ... Schad’ um sie ... Was aus der wohl mal wurde ...? Er rappelte