Die übliche Tretmühle gymnasialen Unterrichts hatte A. R. kennengelernt. Darüber hat nicht nur Stefan Zweig (1881–1942) Treffendes ausgesagt.33 Arbeiterkinder waren in den Gymnasien nicht willkommen, vielmehr waren die Gymnasien den Kindern der aufstrebenden kleinbürgerlichen Schichten und des etablierten Bürgertums vorbehalten. Weshalb A. R. ab Eintritt in die Oberstufe Privatunterricht erhielt und wie dieser organisiert war, lässt sich nicht mehr sagen. Gerade im Schuljugendalter verändern sich Lebenssituationen und die Schüler beginnen, allmählich Einsicht in Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft zu gewinnen. Was die Religion anlangt, hatte A. R. nicht die Erlebnisse von Arthur Schnitzler (1862–1931), der einem Referat die Überschrift „Wie die Welt von Jugend auf zur Dummheit erzogen wird“ gab.34 Eine Erlebnisrevolte gegenüber der Welt der Bibel und seinem zerstreuten jüdischen Volk gab es bei A. R. nicht. Er war aber „kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“, er machte sich in seiner Gegenwart auf den Weg, sich den Aufgaben der Zukunft zu stellen.35
II.2 Student an der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Rudolphina (1922/23–1928). Auf dem Weg zur Befreiung
„Ein Jude kann entweder Chasside oder … Kommunist sein.
Möge er lieber Chasside sein.“
‚Ein mäßig zynischer Pole‘ 1928 in Galizien zu Ilja Ehrenburg (1891–1967)36
Nach seiner Reifeprüfung war für A. R. kein Zweifel, dass es Sinn machen würde, an der Wiener Universität zu inskribieren. Wenn irgend möglich, galt es, die Stufenleiter emporzuklettern. Erwin Chargaff (1905–2002) schildert diese für so viele Kleinbürgerfamilien typische Situation recht nett.37 Dass A. R. sich darauf kaprizierte, an der Philosophischen Fakultät seine Nationalien auszufüllen,38 kann fürs erste mit existentiellen Fragen, die er sich selbst stellte, erklärt werden. An überlebensnotwendigem Selbstbewusstsein kann es ihm nicht gefehlt haben. Der ostgalizische Jude Joseph Roth (1894–1939), dem in seinem Leben viel Schmutz begegnete, ließ den Grafen Chojnicki sagen: „Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine galizischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, daß ihnen alle Vorzugsstellungen einfach gebühren. Mit dem großartigen Gleichmut, mit dem sie auf Steinwürfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Vergünstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen empören sich, wenn man sie beschimpft, und ducken sich, wenn man ihnen Gutes tut. Meine polnischen Juden allein berührt weder ein Schimpf noch eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends habe ich einen größeren Gleichmut gesehen als bei einem polnischen Juden“!39 War das die Realität von polnischen Juden in Wien? Die Antisemiten sahen das so und interpretierten isolierte Beobachtungen ihren Interessen gemäß. Der Wiener Orientalist Adolf Wahrmund (1827–1913), Professor an der hochangesehenen k. u. k. orientalischen Akademie, zitiert in seinem durchgehend antisemitischen Machwerk Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft einen Korrespondenten des „Oesterreichischen Volksfreundes“ vom 17. Dezember 1885 über das Leben an der 1875 gegründeten Francisco Josephina Universität in Czernowitz: „Weil aber der Jude immer ungleich mehr zu scheinen weiß, als er ist, so gehen die Herren Professoren ihm auf den Leim, befreunden sich mit ihm und dienen dann den Judeninteressen, ohne es selbst zu wissen und vielleicht auch ohne zu wollen. Ja, die Herren schämen sich des einfachen, bescheidenen deutschen Bürgers und Handwerkers, der ihnen nicht so nobel scheint wie der Jude. Der Parch40 (Jude) aber, wie stolz geht er neben dem Herrn Professor auf der Gasse und konversiert mit ihm über Politik, Gleichberechtigung und Liberalismus“.41 Karl Kraus notiert, dass ein deutschnationaler Professor genötigt worden sei, „sich gegen den Verdacht der Bevorzugung von Ostjuden“ zu wehren. Er habe das mit der Begründung getan, dass in seinem Dekanat „keine schrankenlose Aufnahme von Ostjuden erfolgt ist und im Gegenteil die Aufnahme der Ostjuden in weitgehendster Weise und nach klar umrissenen einheitlichen Normen herabgedrückt wurde“. Kraus kommentierte das sei insofern ein Fehler, als er überzeugt sei, „daß sich unter den Ostjuden manche finden, die mehr Gefühl für die deutsche Sprache haben als sämtliche Ostdeutschen“.42 1925 stellte die Wienerin Anna Strömer (1891–1966), ab 1916 in der Zimmerwalder Linken und Gründungsmitglied der KPÖ, aus Anlass des wegen der Weltwirtschaftskrise sich wieder zuspitzenden Antisemitismus mit ihrem Artikel „Jud‘ hinaus! Jud‘ hinaus!“ so wie Friedrich Engels (1820–1895) 1890 in seinem Brief nach Wien43 fest, dass die Judenhetze der „Völkischen“ und der „Christlichen“ die ganze Sachlage verfälschen würden. Im Ausbeuten gebe es, betont Strömer, keine „Rassenunterschiede“: „Ob die Arbeiter von einem Kapitalisten mit krummer Nase und platten Füßen ausgebeutet werden oder von einem blauäugigen, blond gelockten Arier: das ist gehupft wie gesprungen. Beide sind Ausbeuter und beide müssen bekämpft werden. Aber nicht, weil sie beschnitten oder unbeschnitten haken- oder stumpfnäsig, schwarzhaarig oder blond, ungetauft oder getauft, o- oder x-beinig sind, sondern weil sie sich auf Kosten der arbeitenden Klasse bereichern, sie ausbeuten“.44 Im selben Jahr schrieb Anna Strömer in der Festnummer zum Jahrestag der Pariser Kommune. Die Rote Fahne (23. März 1925) über Die Heldinnen der Kommune.
A. R. beteiligte sich seit dem Beitritt zum Kommunistischen Jugendverband an vielen Aktivitäten der KPÖ auf der Straße oder in den Lokalen. Für die Konferenzen der Roten Hilfe in deren Konferenzlokal im VII. Bezirk (Mariahilferstraße 56) organisierte er Stenographen und Maschinenschreibkräfte, gab Legitimationen zur Teilnahme aus und war bei den Vorbesprechungen mit Provinzdelegierten dabei. A. R. war Ansprechperson für die Karten der Revolutionsfeier der Roten Hilfe am 8. November 1925 im Volkshaus im XVI. Bezirk, Koflerpark, und gab solche in den Pausen der Konferenz der „Roten Hilfe“ am 24. Oktober 1925 aus.45 Seine Vortragstätigkeit in der Kommunistischen Proletarierjugend war vielfältig, im Herbst 1923 sprach er in Ortsgruppen über „Die Entstehung der Erde“, am 29. Jänner 1924 in der Ortsgruppe 2, Kleine Stadtgutgasse 3 im II. Bezirk, erstmals über „Lenin“. Die KPÖ war klein und lebte vom revolutionären Geist der Jahre nach 1917. Eine revolutionäre Partei muss keine große Anzahl von Mitgliedern haben, es genügt, dass sie die Keimzelle einer Bewegung ist. Das haben die Bolschewiki mit Lenin im riesigen Russland gezeigt oder die kubanischen Revolutionäre mit Fidel Castro (1926–2016).
An der ehrwürdigen Universität, wo im Hof die Büsten berühmter verstorbener männlicher Professoren ohne ihre Schattenfrauen