Der Kuss. Boris Meyn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Boris Meyn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711449691
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den sie bei unserem letzten Beisammensein gehabt hatte. Dazu lächelte der breite Mund, und ihre Augen blinzelten fast schlupflidrig mit einer Andeutung flacher Brauen. Anstelle der Jochbeine hatte sie pausbäckig spitze Wangen, als wäre sie einem Bullerbü-Film entstiegen. So hatte ich sie gesehen, und so sah ich sie immer noch im Spiegel der Zeit. Intimeren Details der Erinnerung verweigerte ich mich in diesem Augenblick.

      Sie war im Gespräch mit einer hochgewachsenen jungen Frau mit strohblonder Mähne. Ihnen gegenüber stand ein vermeintlicher Investor, Typ zu kurz geratener Ägypter in gestreiftem Zweireiher mit pomadiger Kurzhaarfrisur, wahrscheinlich Schuhgröße sechsunddreißig mit hohem Spann. Die Höhe des an mich ausgestellten Schecks hatte mir eine ungefähre Vorstellung davon gegeben, welche Umsätze an einem Ort wie diesem erzielt wurden.

      Soweit ich erkennen konnte, waren kaum Skulpturen und Plastiken ausgestellt, dafür Altmeisterliches in kleinen Nischen, dezent beleuchtet von unsichtbaren Strahlern, eine Abteilung weiter, strikt durch Mauern getrennt, großformatige Porträts in Schlemmer’scher Manier. Die Künstler waren mir nicht bekannt, auch nicht der Schöpfer der wilden Farbphantasien, die an der Wand im linken Teil der Galerie um die Vormachtstellung der Quadratmeter kämpften. Einzig einen Richter konnte ich auf die Entfernung zuordnen. Für den interessierte sich anscheinend auch der Besucher.

      Von Neugier getrieben, traute ich mich verräterisch nah an die Fensterscheibe heran, aber man nahm keine Notiz von mir. Dafür konnte ich erkennen, dass das Interesse des Mannes mehr an der blonden Frau als am Richter hing. Das verriet sein um Gunst buhlender Blick. Sie war also nicht seine Begleiterin, sondern gehörte zum beweglichen Inventar der Galerie, vielleicht Anelis’ Assistentin, eine Kunststudentin, Praktikantin, ein angestellter Lockvogel oder gar ihre Geliebte. Das Auftreten und die atemberaubende Schönheit dieser Elfe beflügelten meine Phantasie.

      Mit ihrem weißblonden Haar, das sie in schmalen Zöpfen um den Kopf geschlungen trug, erinnerte sie mich an eine schwedische Lucia, dem Midsommarfest entsprungen, barfuß im weißen Trägerkleid, mit Mohnblumen und Ähren geschmückt, die Versinnbildlichung feenhafter Leichtigkeit, angesiedelt irgendwo zwischen wollüstigem Kitsch und volkstümlicher Unschuld.

      Es war ein aufregendes Schauspiel, das sich mir bot, und ich genoss für einen Augenblick die Rolle des Voyeurs. Zu gerne wäre ich näher getreten angesichts dieser in Nebensächlichkeit verpackten Versuchung, dem kecken Lachen, das ich erkennen konnte, doch ich bremste mein Begehren und wendete mich ab. Noch war ich nicht so weit.

      Zuerst wollte ich mich vergewissern, ob es meine Amazone noch gab. Aufgestellt war sie im Park der Vernunft, der einst den Puffer zwischen jurisdiktivem Protz und städtischer Untergrundkultur dargestellt hatte, ein Niemandsland zu einer Zeit, als Zuhälter vor Gericht noch Staatsanwälte erschossen und Mütter an mordenden Sexualstraftätern Selbstjustiz verübten. Genau dort, am abgrundtiefen Krater, der ein weißes von einem schwarzen Feld trennte, hatte meine Amazone ihren Platz gefunden.

      Ganz Hamburg war schon immer ein Schachbrett gewesen, arm neben reich, gut neben böse, grün neben grau, teuer neben billig, schmuddelig neben elitär, ohne jeden Übergang und stets im harmonischen, geographischen Wechsel. Es war meine einzige größere Arbeit gewesen, welche die Stadt für das Programm Kunst im Öffentlichen Raum angekauft hatte, eine formal durch Rodin inspirierte Bronze, deren Figürlichkeit den Schuldenschnitt zwischen § 184 und § 218 symbolisierte, angefertigt zu einem Zeitpunkt, als die ersten Peepshows der Stadt ihre Tore schließen mussten. Von den 25 000 Mark, die ich dafür erhielt, hatten wir zwei Jahre leben und arbeiten können, Theo und ich.

      Julia nahm mich in Beschlag. Und sie führte mich mehr, als dass sie mich begleitete. Sie gab den Takt vor, zumindest außerhalb der Lehrzeiten. In der Hochschule traf ich sie nur in einigen Vorlesungen und Pflichtveranstaltungen, sonst war ich auf mich alleine gestellt. Dennoch war sie das Rückgrat, das mir Sicherheit gab. Ich war angenommen worden, das war das Wichtigste, ich hatte vorerst eine Bleibe, aber sonst nur eine vage Vorstellung vor Augen. Das war mehr, als ich erhofft hatte.

      Die ersten Tage fühlte ich mich überfordert vom studentischen Alltag. Ich kannte nichts und niemanden. Hinzu kam die unsagbare Gewalt, die das alte, ehrwürdige Gemäuer der Kunsthochschule verströmte. Es war eine mächtige Theatralik der Räume, die der Erschaffer zwischen den Weltkriegen vor Augen gehabt haben musste und der man wie ein Statist ausgeliefert war.

      Bühnen wechselten mit Nischen, Flure wurden von auskragenden Mauern umspannt, die wie Vorhänge Perspektiven begrenzten, gleichfalls neue Räume schufen, Einblicke und Durchbrüche zu immer neuen Gefügen modellierten. Dazu die dekorative Symbolik des rohen, gebrannten Backsteins an markanten Zonen, gestaffelt, gequadert oder zu Bögen, Lisenen und Pilastern geformt – genauso schwülstig wie die aus dunklem Linoleum gefertigten Bodenbeläge, deren ausgetretenem Alter auch der wöchentlich aufpolierte Wachs keinen wirklichen Glanz mehr verleihen konnte. Das Mobiliar stammte wahrscheinlich noch aus der Vorkriegszeit und war nur in einigen Räumen mit zeitgenössischen Varianten aus Stahlrohr und Multiplex ergänzt worden. Am auffälligsten aber waren die unzähligen Schränke, Regale, Vitrinen und Plankommoden, die überall untergebracht waren, wo sich Platz fand, sodass es eigentlich keine freien Wandflächen gab, wenn sie nicht ausdrücklich für die Präsentation ausgesuchter Werke reserviert waren.

      In diesem Theater der düsteren Illusionen, das sich, soviel stand für mich fest, in seiner Gestalt der edukatorischen Wirkung von Handwerklichkeit und Tradition bediente, tummelten sich nun Horden exzessiv auftretender Studenten. Grüne Parkas, alte Fellmäntel und Selbstgestricktes, wohin man sah. Clogs und Clarks im Winter, im Sommer Jesuslatschen und Espadrilles an den Füßen, dazu lange Haare und ungepflegte Bärte, die Lehrkörper in der Mehrzahl zu jung, um sich wirklich von den Studenten zu unterscheiden. Jeansstoff war das Mittel der Wahl. Bartlos mit halblanger Frisur, Rollkragen und Cordhose, so genoss ich schon Exotenstatus.

      Es gab zwei Meisterklassen für den von mir gewählten Fachbereich Bildhauerei und Skulptur. Ich wurde der Klasse von Professor Winkler zugeteilt, einem klassischen Lehrmeister, der seine Studenten noch siezte, aber mit Vornamen ansprach. Bei ihm gab es noch einen freien Platz. Bei Lamponi herrschte hingegen dichtes Gedränge. Ich wäre bei ihm aber auch nicht glücklich geworden.

      Dort saßen die Freaks der Moderne. Es gab mehr theoretischen Überbau als Handwerk. Die ganze Bandbreite experimenteller Kunst – Rauminstallationen, Video, Konzeptkunst, lauter schräge Sachen und viel Gefasel. Hochaktuell. Es passte genau in die Zeit. Lamponi war bekennender Fluxus-Künstler und kam aus der Dada-Ecke. Die älteren Winkler-Schüler nannten das spöttisch Gaga-Szene.

      Mich beeindruckte die stoische Gelassenheit, mit der Winkler an einer Ausbildung festhielt, deren Programm althergebracht war und wahrscheinlich schon vor 50 Jahren nicht sehr anders ausgesehen hatte, was Ablauf und Reihenfolge der Inhalte betraf. Zuerst wurden die Grundlagen vermittelt, Werkund Materialkunde, Studium der Anatomie des Körpers, Farbe und Form, freies Zeichnen, Kunstgeschichte. Was andere Studienfächer als Schwerpunkt hatten, musste laut Winkler zumindest begriffen werden. Malerei – Keramik – Textil – Design. Fotografie und Architektur wurden erst Jahre später angeboten.

      Winkler war ein hochgewachsener, kräftiger Recke, der während des Unterrichts weiße Kittel trug und stets eine Pfeife in der Hand oder im Mundwinkel hatte. Seine Hände waren gewaltig wie Klodeckel und mit einer kräftigen Hornhaut überzogen. Die donnernde Stimme mit einem schrägen Vibrato passte zu seiner Erscheinung.

      Wir waren uns von dem Moment an sympathisch, als er mir offen und ehrlich sagte, meine Bewerbungsarbeiten hätten ihn weniger überzeugt, aber er achte stets auf ein gleichgeordnetes Nebeneinander der Geschlechter in seiner Klasse, und die Frauen seien dieses Semester deutlich in der Überzahl gewesen. Ich hatte ihm geantwortet, mir beste Mühe zu geben, seine Einschätzung zu erfüllen und ihn bezüglich der Studentinnen zu unterstützen, woraufhin er sich ein Lachen nicht hatte verkneifen können. Hinter der Maske des Rübezahls verbarg sich der väterliche Freund, der Auftragsarbeiten für die höheren Semester vermittelte, bei der Suche nach Ateliers behilflich war und auch für alle persönlichen Dinge stets ein offenes Ohr hatte.

      Im ersten Semester arbeiteten wir mit Speckstein, Ton und Gips. Unsere Werkräume lagen im Erdgeschoss eines Seitenflügels. Die Ateliers