„Jetzt langsam zur Mitte!“
Direktor Binagel versuchte es, aber nur das linke Auge gehorchte. Das rechte blieb stehen. – „Weiter nach, rechts!“
Die Pupille des linken Auges drehte sich bis in den äußersten Lidwinkel, das rechte starrte unbewegt geradeaus.
„Danke, das genügt mir“, sagte Professor Bergmeister. „Sie können Ihre Brille wieder aufsetzen.“
„Werden Sie mich jetzt endlich operieren?“ drängte der Patient. „Von mir aus reißen Sie das Auge ’raus. So, wie es sich jetzt benimmt, kann ich es doch nicht mehr brauchen. Mit einem gesunden Auge wäre ich bestimmt besser bedient.“
„Das werden wir nun doch lieber nicht tun.“ Professor Bergmeister legte die Spitzen seiner schmalen Finger gegeneinander, lächelte ein wenig. „Ich weiß schon, an was Sie denken … wenn dich dein rechtes Auge ärgert, dann reiße es aus und wirf es von dir! Aber wir werden eine Muskelpfropfung machen und das ärgerliche Auge dahin bringen, wieder ordentlich zu funktionieren.“
Direktor Binagel beugte sich begierig vor. „Wann?“
„Sie würden natürlich einige Wochen in der Klinik bleiben müssen.“
„Das ist mir egal!“ Fast im selben Atemzug fügte er abschwächend hinzu: „Na, egal ist es mir natürlich doch nicht, aber was sein muß, muß sein. Lieber jetzt mal ein paar Wochen aussetzen, als noch länger in dieser Verfassung herumlaufen. Wann kann ich also kommen?“
„Ich werde mich mal eben mit der Oberschwester in Verbindung setzen und fragen, ob ein Privatzimmer frei ist.“ Professor Bergmeister hatte den Telefonhörer des Haustelefons schon in der Hand. „Ich denke, Sie sind einverstanden, daß mein erster Assistent, Dr. Norman Hilpert, Sie operieren wird? Ein ausgezeichneter Chirurg.“
Direktor Binagel legte die breite Stirn in Falten. „Aber ich hatte gedacht, Sie würden selber …“
„Ich hoffe, Sie werden nicht darauf bestehen.“ Professor Bergmeister lächelte entschuldigend. „Ich habe mich nämlich gerade heute entschlossen, in nächster Zeit nur noch ganz ausnahmsweise selber zu operieren, da ich mich einer wissenschaftlichen Arbeit widmen muß.“ Er sah, daß Oskar Binagels Gesicht sich verfinstert hatte, und fügte noch hinzu: „Ich würde Ihnen Dr. Hilpert nicht empfehlen, wenn ich nicht wüßte, daß er diese Operation genausogut ausführen kann wie ich … möglicherweise sogar besser!“
An diesem Abend brachte Professor Bergmeister seiner Frau zwölf auserlesen schöne Teerosen mit nach Hause. Er hatte den Wagen vor einem Blumengeschäft halten lassen, war selber hineingegangen und hatte sie ausgesucht. Aber Vera entlockten sie nicht einmal ein Lächeln.
„Danke“, sagte sie und klingelte nach dem Mädchen. „Ist es wahr, daß du Direktor Binagel von deinem Assistenten operieren läßt?“
„Wie kommst du darauf?“ fragte er überrumpelt.
„Edith Binagel hat mich angerufen. Ihr Mann hat dein Benehmen ziemlich merkwürdig gefunden. Sie wollte wissen, was dahintersteckt.“ Das Mädchen erschien, und Vera drückte ihr die Rosen, ohne noch einmal hinzusehen, in die Hand. „Bitte, stellen Sie sie in eine Vase, Gitta.“
„Wo ist Michael?“ fragte Professor Bergmeister, ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken und entfaltete die Tageszeitung.
„In einem seiner Klubs“, sagte Vera gleichgültig. Sie wartete, bis das Mädchen mit den Blumen das Zimmer verlassen hatte, fragte fordernd: „Was ist los, Klaus? Weich mir nicht aus.“
Er sah sie über den Rand der Zeitung an. „Seit wann interessierst du dich für meine Arbeit?“
„Soll das ein Vorwurf sein?“
Sein Kopf war schon wieder hinter der Zeitung verschwunden. „Nein, nur eine erstaunte Frage“, murmelte er.
„Klaus!“ Sie riß ihm mit einem Ruck die Zeitung aus der Hand. „Lies nicht, wenn ich mit dir spreche!“
Professor Bergmeister bückte sich, um die Blätter, die auf den Boden gesegelt waren, wieder aufzuheben. „Ich glaube nicht, daß ein Gespräch sinnvoll ist, solange du so aufgeregt bist“, erklärte er gelassen.
„Aufgeregt! Wütend bin ich, außer mir! Warum willst du Direktor Binagel nicht operieren? Bitte, gib mir eine einzige Erklärung dafür, falls dir eine einfällt. Du weißt genau, Binagel ist ein reicher Mann. Wenn du nur wolltest, könntest du dir bei dieser Operation eine goldene Nase verdienen, statt dessen …“ Sie schluchzte auf, preßte ein weißes Batisttüchlein gegen die Augen.
„Vera!“ sagte er. „Bitte, Vera! Liebling! Es gibt doch gar keinen Grund zum Weinen! Es ist doch nichts geschehen … nicht das geringste!“ Er stand auf, ging zu ihr hin, nahm sie in die Arme. Sie ließ es widerstandslos zu.
„Du weißt genau, was Edith Binagel für eine Klatschbase ist“, schluchzte sie. „Sie wird die tollsten Gerüchte über dich ausstreuen. Alle werden sich fragen: Was ist mit Professor Bergmeister los? Glaubt er mit einemmal, daß er es nicht mehr nötig hat? Oder traut er sich nichts mehr zu?“
„Aber Liebling, das ist doch alles Unsinn“, sagte er. „Binagels Operation macht Dr. Hilpert wirklich genausogut wie ich.“
Ihr Kummer schlug schon wieder in Verzweiflung über. „Aber darauf kommt es ja nicht an!“ rief sie mit tränenerstickter Stimme. „Es geht doch um etwas ganz anderes! Warum hast du Binagels Operation abgelehnt?“
„Das habe ich ja gar nicht getan. Ich habe ihm nur nahegelegt, sich an Hilpert zu wenden. Und wenn du genau wissen willst warum … hast du denn ganz vergessen, wie oft du dich beklagt hast, daß ich zuwenig Zeit für dich habe? Daß du den ganzen Tag und die meisten Abende allein bist? Jetzt solltest du doch eigentlich froh sein …“
Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Meinetwegen? Du hast es meinetwegen getan?“
„Unsertwegen, Vera“, sagte er ernst, „ich habe eine schwierige wissenschaftliche Arbeit vor …“
„Deine Vorlesungen! Aber die hast du sonst doch immer nebenbei gemacht.“
„Es handelt sich nicht um Vorlesungen, sondern um meine Arbeit über Lichtkoagulation. Ich habe meine Versuchsreihe jetzt beendet …“
Sie löste sich mit einem Ruck aus seinen Armen. „Du hast also trotzdem weitergemacht“, sagte sie, „obwohl ich dich so gebeten … obwohl ich dich angefleht habe!“ Ihre Tränen waren mit einem Schlag versiegt, ihr Gesicht glich einer starren Maske.
Er ließ die Arme sinken. „Ich mußte es tun, Vera. Ich bin Wissenschaftler. Du hast gewußt, daß du einen Wissenschaftler heiratest.“
„Einen Wissenschaftler, ja … aber keinen Selbstmörder!“
„Vera!“
„Schau mich nicht so an! Ich bin es nicht, die sich an unserer Ehe versündigt hat, sondern du … du ganz allein! Du hast dein Augenlicht aufs Spiel gesetzt, unser Glück … alles! Nur aus deinem verbohrten wissenschaftlichen Ehrgeiz!“
„Darauf“, sagte er und wandte sich ab, „gibt es wohl nichts mehr zu sagen.“
Sie lachte böse auf. „Du machst es dir sehr einfach.“
Er wollte zur Tür.
Sie verstellte ihm den Weg. „Kannst du mir schwören, daß diese Versuche deinen Augen nicht geschadet haben? Kannst du es mir schwören?“ – Er schwieg.
„Ich habe es gewußt“, sagte sie tonlos, „ich habe es von Anfang an gewußt. Jetzt ist es also soweit. Deshalb hast du dich vor der Operation an Binagcl gescheut. Weil deine Augen versagen. Herrgott, steh nicht so da und schau mich an …“
Er machte einen tiefen Atemzug, der wie ein Seufzer klang. „Selbst wenn du recht hättest, Vera … hast du ganz vergessen, was du mir geschworen hast? Du wolltest in guten und schweren Tagen zu mir halten.