Hätte er sich nicht ausgerechnet in dieser Position an dieser Stelle befunden, und hätte die Frau ihm nicht ausgerechnet in diesem Moment einen so heftigen Stoß versetzt, dann hätte der Mann wahrscheinlich gar nicht über Bord stürzen können. Aber an dieser Stelle der Reling gab es eine Lücke. Dort wurde – wenn nötig – eine Gangway angelegt. Die Öffnung wurde durch eine etwas tiefer und ziemlich schlaff hängende Kette abgesperrt. Gegen diese Kette prallte Jack nun mit dem Hintern. Der untere Teil seines Körpers wurde abrupt angehalten, während der Oberkörper den Schwung beibehielt. Für einen Sekundenbruchteil balancierte der Mann auf der schwankenden Kette, dann kippte er kopfüber zur Seite und landete laut aufplatschend im Wasser.
Sandra stand entsetzt da und konnte kaum glauben, was sie da eben angerichtet hatte.
„ He, Baby ... was ist denn los?“ fragte ihr Mann leicht lallend, während er taumelnd in Sicht kam. „Komm zurück zur Party. Wir wollen jetzt nämlich ein bißchen Strip-Poker spielen.“
Sandras Augen zeigten einen etwas glasigen Ausdruck. Ihre Beine waren wie Gummi. Wie in Trance bewegte sie sich auf ihren Mann zu ... der lärmenden Party entgegen und weg von dieser gräßlichen Realität der letzten Minuten. In ihrem von Alkohol umnebelten Gehirn dachte sie: Er hat keinen Laut von sich gegeben! Er hat nicht geschrien. Niemand außer mir weiß also, daß er eben erst über Bord gefallen ist. Wenn ich nichts sage, wird man sein Verschwinden erst viel später entdecken. Bis dahin wird er tot sein . . . und man wird niemals erfahren, was sich vorhin zwischen ihm und mir auf dem Deck abgespielt hat!
„ Was hast du überhaupt hier oben gemacht? fragte Hobart, als die Frau auf unsicheren Beinen an ihm vorübergehen wollte.
„ Ich ... äh ... ach ... ich wollte nur mal ein bißchen frische Luft schnappen“, antwortete sie stotternd. Ihre eigene Stimme hörte sich in ihren Ohren merkwürdig dünn und brüchig an.
Aber ihrem Mann schien offenbar nichts Ungewöhnliches an ihr aufzufallen. Er war wohl schon viel zu betrunken, um das seltsame Verhalten seiner Frau zu bemerken.
Während Sandra vor ihrem Mann die Kajütstreppe betrat, dachte sie: O Gott ... O mein Gott ... ich habe ihn getötet! Ich habe einen Mann getötet! Ich habe einen Menschen umgebracht!
Jack schrie bei seinem Sturz über Bord nur deswegen nicht laut auf, weil er einen Moment lang viel zu schockiert war. Er war doch ein sehr erfahrener Seemann, dem so etwas eigentlich gar nicht passieren durfte. Tatsache aber war nun einmal, daß es passierte. Daran war nicht zu rütteln. Als Jack auf dem kalten Wasser aufschlug, war er zunächst wie betäubt.
Er verlor sekundenlang das klare Bewußtsein.
Er hatte genau gewußt, wo die Jacht sich befunden hatte, als er über Bord gefallen war; er hatte auch von dieser Insel gewußt. Aber später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, überhaupt an alles gedacht zu haben. Er hatte es eben ganz einfach gewußt. Sein Selbsterhaltungstrieb übernahm das Kommando. Jack reagierte ganz instinktiv. Mit schwachen Schwimmstößen arbeitete er sich auf den Strand dieser Insel zu. Sie war Privatbesitz. Am Ufer gab es ein paar Palmen.
Als Jack wieder richtig zu sich kam, lag er am Strand. Das Wasser plätscherte um ihn herum an Land. Er war bis auf die Knochen durchgefroren, doch jetzt machte sich die warme Luft auf seiner Haut bemerkbar. Er starrte zum Sternenhimmel hinauf.
Nach einer Weile rappelte sich Jack auf die Beine. Er stand schwankend da und wäre beinahe wieder hingefallen. Dann entdeckte er Lichter in der Ferne. Er hörte jemanden auf sich zukommen.
„ He ... wer ist denn da?“ rief eine Stimme.
Ein Lichtstrahl huschte über die Stelle, wo Jack stand.
Die Stimme fragte: „Wer sind Sie?“
Jack gab zunächst keine Antwort, blieb ganz ruhig stehen und wartete, bis der Mann ihn erreichen würde. Jack hatte viel Wasser geschluckt und empfand aufsteigende Übelkeit. Er drohte erneut das Bewußtsein zu verlieren. Unsicher stand er da. Wasser tropfte von ihm herab. Etwas Seetang hatte sich an einem Bein verfangen.
„ Woher kommen Sie denn?“ fragte der Mann, als er im Laufschritt herangekommen war.
„ Ich bin von einem Boot gefallen“, sagte Jack mit einiger Mühe.
„ Also ... gottverdammtnochmal!“
„ Und ich möchte ... möchte auf dem Festland ... anrufen“, brachte Jack heraus. „Ich ... brauche ... trockene Kleidung.“
„ Sicher“, sagte der Mann. „Yeah. Sicher. Sie sind aber in verdammt schlechter Verfassung, Kumpel!“
Jack bemühte sich, den Mann, der so zu ihm sprach, klar zu erkennen, aber der Lichtstrahl der Taschenlampe war immer noch auf Jack gerichtet und blendete ihn so stark, daß er nichts erkennen konnte. Der Mann schien irgendeine Art von Uniform zu tragen. Das war alles, was Jack zu sehen glaubte.
„ Und Sie sind tatsächlich von einem Schiff gefallen?“ fragte der Mann. „Was für’n Schiff war’s denn?“
„ Eine Privatjacht ... die Sonrisa “, gab Jack wahrheitsgemäß an. „Ich bin Mitglied der Besatzung.“
Jetzt drohten Jack doch die Kräfte wieder zu verlassen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
„ Na, na, na!“ sagte der Mann. „Nun mal immer schön mit der Ruhe!“ Er packte energisch zu und stützte Jack.
Dabei wurde die Taschenlampe etwas herumgeschwenkt, so daß der Lichtstrahl zur Seite gerichtet war.
Jetzt konnte Jack schon etwas besser sehen und seinen Retter genauer erkennen.
Der Mann mochte etwa dreißig Jahre alt sein und hatte ziemlich dunkle Haut. Er trug eine Brille und eine Uniformmütze mit Schirm, wie sie ähnlich von Polizeibeamten und Army-Offizieren getragen wurde. Er hatte auch einen Sam-Browne-Gurt mit einem Revolver umgeschnallt. „Sind Sie ein ... Polizist?“ fragte Jack. Er konnte kaum noch die Augen offenhalten, und nur mit größter Anstrengung war es ihm gelungen, ein paar Worte herauszubringen. Sicher wäre er auf der Stelle wieder bewußtlos zusammengebrochen, wenn ihn der Mann nicht gestützt und festgehalten hätte.
„ Nein ... Privatwächter“, antwortete der Mann. „Na, kommen Sie ... setzen Sie sich erst mal wieder ’n bißchen hin. Ich muß einen Telefonanruf machen, und dann werde ich Sie zum Boß bringen.“
Jack ließ sich erschöpft auf den nassen Sand sinken, der jedoch kaum feuchter war als er selber. Der Wächter benutzte ein tragbares Funksprechgerät, das an einem Riemen von seiner Schulter baumelte.
„ Hier spricht Garth“, sagte er. „Over.“
„ Ist sie gefunden?“ kam eine leicht krächzende Stimme aus dem Lautsprecher. „Over.“
„ Nein ... aber ich habe was anderes gefunden ... einen Mann am Strand ... behauptet, von Bord eines Schiffes gefallen zu sein ... over.“
„ Scheißdreck!“
„ Hab’ ich zuerst auch gedacht, aber er scheint in ziemlich schlechter Verfassung zu sein. Darf ich ihn hinbringen? Over.“
„ Nein! Es wird weiter nach Mrs. Slade gesucht! Over.“
„ Aber ... aber das ist doch dumm, Max! Sie kann ja gar nicht von der Insel herunter. Das wissen wir doch. Over.“
„ Yeah? Wenn irgendein Kerl von irgendeinem gottverdammten Schiff fallen und ausgerechnet auf dieser Insel hier landen kann, dann kann die Frau auch von hier fortkommen und irgendwie aufs Festland gelangen! Es wird weiter nach ihr gesucht! Over.“
Die letzten Worte hatte Jack schon gar nicht mehr gehört, weil er erneut das Bewußtsein verloren hatte.
2
Jason Slade setzte sich im Bett auf und wartete. Er war vierundvierzig Jahre alt, aber schlank und durchtrainiert wie ein nur halb so alter Mann. Er hatte blondes Haar, das an den Schläfen bereits leicht