DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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in Zoes Klasse das Vermögen hatte, um sich daran anschließen zu lassen – auch wenn das das Beste war, was man tun konnte.

      Mit dem Jahrtausendwechsel wurden kommunale Gasnetze für die Versorgung der Bevölkerung zunehmend uninteressant. Kaum jemand kochte noch mit Gas und immer weniger nutzten die fossilen Brennstoffe für die Heizung. Aber die Leitungen lagen in der Erde, obwohl sie keine wirtschaftliche Bedeutung mehr hatten. Damals ahnte niemand, dass sie ein Milliardengeschäft ermöglichen würden. Denn mit dem Judgement Day stieg die Nachfrage nach strahlungsfreier Atemluft dramatisch an. Luftfilteranlagen in den Wohnungen schafften es zwar, die Radioaktivität zu mindern, aber sie konnten sie nicht gänzlich beseitigen. Dies war nur möglich, wenn sich eine Familie zu horrenden Preisen an das Gasnetz anschließen ließ, durch das ab Mitte der Zwanzigerjahre reine Atemluft floss. Sie strömte kontinuierlich aus und erzeugte in den Räumen einen minimalen Überdruck. Sobald es dann kleinere Undichtigkeiten zum Beispiel an den Fenstern gab, sorgte der Überdruck dafür, dass Luft immer nur nach außen und nie in die Wohnung hineinströmte. In Verbindung mit einer Eingangsschleuse im Flur und konsequenter Dekontamination der Kleidung konnte die Strahlungsbelastungen in den eigenen vier Wänden im Vergleich zu herkömmlichen Haushalten auf unter zwölf Prozent reduziert werden.

      »WEIL DIR NICHTS BESSERES EINFÄLLT!«, schrie Zoe. »Denn du hast auch keine Ahnung, wie man verhindert, dass neun von zehn Leuten an Krebs verrecken! Ist es so schwer zu begreifen, dass ein Distrikt die einzige Lösung ist?!«

      Es machte Marten wahnsinnig, dass er emotional so tief in der Auseinandersetzung mit seiner Tochter steckte. Würde ihm ein Außenstehender die Situation schildern und hätte er ausreichend Abstand zu den Beteiligten, könnte er problemlos einen professionellen Rat geben, wie man mit einem Teenager dieses Kalibers umgehen sollte. Doch so wie er in den Fall verwickelt war, nutzte ihm weder sein Studium etwas noch die Berufserfahrung. Alles wühlte ihn derart auf, dass er kaum sachlich bleiben konnte. Das spürte er ein ums andere Mal, seit Zoe bei ihm lebte.

      »Und was hat man in der Kolonie für eine Perspektive?«, fragte er. »Wie beschissene Laborratten im Käfig. Ohne freien Willen. Das hat doch nichts mit Leben zu tun.«

      »WOHER WEISST DU DAS? WARST DU SCHON MAL DORT?«, schrie sie.

      »DAS WEISS MAN EBEN!«, brüllte er zurück.

      »Aber wenigstens ist es ein Leben!«, giftete Zoe ihn an. »Nimmst du wirklich in Kauf, dass ich irgendwann genauso wie Liam draufgehen werde?«

      »VERZIEH DICH IN DEIN ZIMMER«, schrie Marten. »Und dann denke mal darüber nach, was ich dafür kann, dass deine Mutter sich sang- und klanglos verpisst hat. ICH KANN ES NICHT MEHR HÖREN!«

      8

      Um drei Uhr vierzig wurde das Blaulicht heller und mit ihm kam eine Stimme aus einem Megafon näher.

      »Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Bleiben Sie in Ihren Häusern. Ich wiederhole: Bleiben Sie in den Gebäuden und folgen Sie den Anweisungen! Es sind Notstandsgesetze in Kraft getreten, die die Räumung der Gebäude erforderlich machen. Leisten Sie keine Gegenwehr! Wir sind zum unangekündigten Waffeneinsatz berechtigt.«

      »Papa!«

      Zoe kroch auf allen vieren aus ihrem Zimmer, aus Angst, durch das Fenster von den Scheinwerfern der Militärfahrzeuge erfasst zu werden.

      »PAAAPAAA!«, kreischte sie panisch, als ein Lichtkegelpaar mit Blick auf ihr Haus stehen blieb. Ihr war nicht mehr danach zumute, Marten mit Vornamen anzusprechen. Sie brauchte gerade niemanden auf Augenhöhe.

      »Zoe, wo bist du?«

      »Am Ende des Flurs. Hilf mir!«

      »Komm her.«

      Er winkte sie zu sich in die Küche.

      Als sie den Vater erreichte, drückte sie ihn mit der festen Absicht, ihn nicht wieder loszulassen.

      »Was sind das für Leute?«

      »Ich weiß es nicht.«

      Marten küsste ihre Stirn und registrierte, wie hinter einem Streifenwagen zwei Flecktarn-Lkw hielten und Soldaten ausstiegen.

      »Ich sehe mir das schon eine halbe Stunde an. Sie sind bei fast allen Nachbarn gewesen und haben sie aus den Häusern geholt. Übrig bleiben nur noch wir und nebenan die Kanzlei.«

      Nachdenklich verfolgte er das Geschehen durch das Fenster.

      Es war ein Fehler, aus dem Zentrum wegzuziehen, dachte Marten.

      Als die Strahlung dafür sorgte, dass sich die Stadtbevölkerung immer weiter zurückzog, kam es zu einer Verlagerung des Lebens – weg von den Straßen und tiefer hinein in ihre Häuser. Überall, wo es ging, brach man in den Kellern die Wände zu den Nachbargebäuden durch. Diese Gänge ergaben zwar kein zusammenhängendes Netz, es entstanden jedoch viele kleine Verbindungen, um die Sozialkontakte in der näheren Umgebung aufrechtzuerhalten. So konnte sich Marten vom Kellergeschoss des Mietshauses aus, in dem er nach der Hochzeit mit seiner Ex-Frau wohnte, in beide Richtungen fünf, sechs Hausnummern weit bewegen.

      Eine Situation mit Begleiterscheinungen, die er damals furchtbar fand. Ständig liefen ihm fremde Gesichter im Treppenhaus über den Weg oder es klopften ominöse Personen an die Tür, um etwas unter der Hand zu verkaufen. Der Schwarzmarkt befand sich praktisch vor der Wohnung. Ein Umstand, der ihn derart nervte, dass er auf Zoes Mutter so lange einredete, bis sie mit ihm einige Viertel weiter nördlich das Haus kaufte – ganz bewusst eines ohne Keller und damit auch eines ohne den Fluchtweg, den er gerade so dringend brauchte.

      Was würde ich jetzt für unsere alte Mietwohnung geben, ärgerte sich Marten.

      »Was machen sie mit ihnen«, flüsterte Zoe und spürte, wie das Zittern ihrer rechten Hand nicht mehr aufhörte.

      »Ich vermute, sie verladen sie. Man sieht es von hier schlecht. Zumindest fahren die Zehntonner irgendwann los und es geht niemand zurück in die Häuser.«

      »Denkst du, die …«, etwas in Zoe hinderte sie, das auszusprechen, was sie dachte.

      9

      Beginnend mit Edward Snowdens Enthüllungen im Jahr 2013, spätestens jedoch mit der Akte Bailong Chén 2027 setzte man in Regierungskreisen bezüglich der Informationsübermittlung zunehmend auf Methoden vergangener Tage. Man entschied sich bei als geheim eingestuften Inhalten kaum noch für die Datennetzwerke der Regierungen. Denn das technische Wettrüsten, bei dem regelmäßig mit neuen Verschlüsselungssystemen versucht wurde, diese Leitungen sicher zu halten, konnte nur kurzfristig Schutz bieten. Nur so lange, bis man auf der Gegenseite gleichzog.

      Der Wettstreit ähnelte den Bemühungen der Dopingeindämmung im Profisport. Dort wollte man in der Vergangenheit ebenfalls durch immer kompliziertere Kontrollen des Missbrauchs Herr werden. Nur mit dem Unterschied, dass man sich bei der Spionageabwehr noch nicht geschlagen geben musste.

      Anstelle des Informationsaustauschs mittels aufwendig abgesicherter Telefon- und Datenleitungen waren von daher meistens Informanten in den europäischen Hochgeschwindigkeitszügen unterwegs. Sie trugen einen Metallkoffer, an dessen Oberseite sie tief in die Öffnung hinein fassten, um den Griff zu umschließen und damit einen Sicherheitsmechanismus zu aktivieren. Sollte der Träger ihn loslassen oder einen Knopf in der Handöffnung betätigen, wäre der Inhalt innerhalb einer Sekunde pulverisiert und ein Kollege würde sich mit der gleichen Information erneut auf den Weg machen. Eine Praxis, welche durch die gefälschte Nachricht des schwedischen Ministerpräsidenten im Jahr 2023 und dem dadurch entstandenen Judgement Day für einige Zeit infrage stand, doch mangels Alternativen nie aufgegeben wurde. Stattdessen war von da an neben der Akkreditierung des Entsendestaates auch die jeder einzelnen Zielnation erforderlich. Dieses Verfahren bewährte sich. Denn so konnte man den Informationsfluss zwar stören und verlangsamen, aber nicht mehr manipulieren.

      P51 erreichte vom Warszawa Centralna kommend den Speckgürtel