4.
Der heilige Lukas hat dagegen eine Art geschichtliche Anordnung eingehalten und uns eine größere Anzahl wunderbarer Begebenheiten aus der Lebensgeschichte des Herrn bekannt gegeben, doch so, daß die Geschichte dieses seines Evangeliums die Vorzüge der ganzen Weisheitslehre in sich schließt. Denn welche erhabenere Wahrheit kännte die Naturphilosophie als die von ihm mitgeteilte Tatsache, es sei der Heilige Geist auch Schöpfer der Menschwerdung des Herrn gewesen?18. In die Naturwahrheiten schlägt sonach seine Lehre von der schöpferischen Wirksamkeit des (Heiligen) Geistes ein. Darum trägt auch David Naturphilosophie vor, wenn er sagt: „Sende aus Deinen Geist und sie werden erschaffen werden"19. Die Lehre vom Sittlichen vertritt (Lukas) in der gleichen Schrift, indem er mir in jenen Seligpreisungen20 sittliche Unterweisungen erteilt, wie ich den Feind lieben müsse21, wie ich dem tätlichen Angreifer nicht Hieb und Schlag zurückgeben dürfe22, wie ich Gutes tun, Darlehen geben müsse ohne Aussicht auf Rückerstattung und mit Aussicht auf die (göttliche) Lohnvergeltung23; denn leichter fällt einem der Lohn zu, wenn man ihn nicht (von Menschen) erwartet. Auch in Vernunftwahrheiten unterwies er mich, wenn ich lese, daß der, „welcher treu ist im Kleinsten, auch in bezug auf Größeres treu ist"24. Was soll ich noch hinsichtlich der Naturwahrheiten an seine Lehre erinnern, die Kräfte der Himmel würden erschüttert25, der Herr der Sonnen26 sei Gottes eingeborener Sohn, bei dessen Leiden bei Tag Finsternis entstanden sei, die Erde in Dunkel sich gehüllt, die Sonne sich verborgen habe?27
5.
Der ganze Vorrang also, den sich die weltliche Weisheit fälschlich anmaßt, gebührt in Wahrheit der geistlichen Weisheit. Kann doch, um eine etwas kühne Wendung zu gebrauchen, selbst unser Glaube, selbst das Trinitätsgeheimnis nicht ohne die dreifache Weisheitslehre gedacht werden: ohne den Glauben an jenen, der von Natur der Vater ist, der uns den Erlöser erzeugt hat, und an jenes sittliche Ideal, (den Sohn,) der als Mensch dem Vater bis zum Tode gehorsam28 uns erlöst hat, und an jenen vernünftigen Geist, welcher der Menschenbrust die vernünftige Gottesverehrung und Lebensführung eingesenkt hat. Niemand glaube, wir hätten damit einen Unterschied zwischen ihrer Macht und Kraft gemacht, eine Verdächtigung, mit der er doch ebensogut einen Paulus begeifern könnte! Denn auch dieser machte keinen Unterschied, da er sprach: „Es gibt Unterschiede der Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist; und es gibt Unterschiede der Ämter, aber es ist derselbe Herr; und es gibt Unterschiede in den Wirkungen, aber es ist derselbe Gott, der alles in allen wirkt"29. Alles und in allen wirkt nämlich der Sohn, wie man auch an einer anderen Stelle liest: „Alles und in allen ist Christus"30. Es wirkt aber auch der Heilige Geist; denn „alles wirkt ein und derselbe Geist, einem jeden zuteilend, wie er will"31. Also keine Verschiedenheit des Wirkens, keinen Unterschied kann es geben, wo keiner Person weder im Vater, noch im Sohne, noch im Heiligen Geiste eine untergeordnete Kraftvollkommenheit zukommt.
6.
Dies also laßt uns beim Lesen ernstlich bedenken, damit es uns an den (einschlägigen) Stellen selbst besser einzuleuchten vermag! „Denn wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan werden"32. Nur reges Streben öffnet sich die Pforte zur Wahrheit: darum laßt uns den himmlischen Lehren folgen! Nicht umsonst ward zum Menschen gesprochen, was zu keinem anderen lebenden Wesen gesprochen wurde: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen"33. Den von Natur unvernünftigen Wesen muß auf Gottes Geheiß die Erde die Nahrung bieten, dem Menschen allein hingegen wird, damit er die Vernunft, die er empfangen, betätige, ein in Arbeit verlaufendes Leben zur Vorschrift gemacht. Er, der sich ja mit der Nahrung der übrigen lebenden Wesen nicht zufrieden gibt, dem die Gabe der Obstbäume, die allen gemeinsam ihre Speise reichen sollten, nicht genügt, der vielmehr nach Genüssen bunt besetzter Tafeln verlangt, Genüsse aus überseeischen Ländern sich herbeiholt, Genüsse aus den Fluten rafft; er, der es sich schon für den (irdischen) Lebensunterhalt Mühe kosten läßt, darf es nicht verschmähen, wenn er für das ewige Leben kurzer Mühe sich unterziehen muß. Wer nun in diese Kämpfe heiliger Wissenschaft eintritt, die Sorge um dieses der Verirrung ausgesetzte Leben abstreift, der Bande der Sündhaftigkeit ledig, als Streiter der Frömmigkeit gleichsam der Seele Glieder mit des Geistes Öl salbt und den Kämpfen der Wahrheit sich unterzieht, der wird zweifellos den ewigen Lohn heiliger Siegeskronen verdienen. „Denn guter Arbeit harrt edle Frucht"34. Und je mehr Kämpfe, um so herrlicher der Tugenden Krone.
7.
Doch kehren wir zum Thema zurück! In geschichtlicher Darstellungsweise, bemerkten wir, wurde unser Evangeliumbuch abgefaßt. So sehen wir denn auch, daß im Vergleich zu den anderen das reichlichere Maß der Sorgfalt mehr auf den Bericht der Tatsachen denn auf die Wiedergabe der Lehren verwendet ist. Der Evangelist selbst begann nach dem Brauch eines Historikers mit einer Erzählung: „Es lebte", beginnt er, „in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, ein Priester namens Zacharias"35. Und nun erzählt er diese geschichtliche Begebenheit in ausführlicher Darstellung zu Ende. Darum wollten auch jene Autoren, welche die vier apokalyptischen Tiergestalten36 auf die vier Evangelienschriften beziehen zu sollen glaubten, unsere Schrift durch das Symbol des Kalbes versinnbildet finden; denn das Kalb ist priesterliches Opfertier. Dazu nun stimmt trefflich unsere Evangeliumschrift. Es beginnt mit einer Priesterfamilie und schließt mit jenem Opferkalb, das die Sünde aller auf sich nehmend für das Leben der ganzen Welt dargebracht ward; denn priesterlichen Charakter trägt jenes Opferkalb an sich; der nämliche ist ja Opfer und Priester zugleich: Priester, weil er unser Versöhner ist ― denn zum Fürsprecher haben wir ihn beim Vater37 ― Opfer, weil er uns mit seinem eigenen Blute erlöst hat38. Es war wohl am Platze, die derartige Auffassung (vom Lukasevangelium) nicht mit Stillschweigen zu übergehen, nachdem wir beim Matthäusevangelium die* sittliche* Grundtendenz konstatiert haben; von Sitten im eigentlichen Sinn ist nämlich nur beim Menschen die Rede.
8.
Gar manche meinen indes, unser Herr selbst werde in den vier Evangelienschriften unter den vier Tiergestalten symbolisch dargestellt, indem er zugleich Mensch, zugleich Löwe, zugleich Kalb, zugleich Adler sei: Mensch, weil er aus Maria geboren ward; Löwe, weil er „der Starke"39 ist; Kalb, weil er Opfer ist; Adler, weil er die Auferstehung ist40. Und zwar gelangen in den einzelnen Schriften die Tiergestalten in der Weise zur typischen Verwendung, daß der Inhalt einer jeden entweder der Natur oder der Kraft der vorstehenden Wesen oder ihrer (typischen) Beziehung zur Gnade oder zum Wunder entspricht. Denn wenn auch dies alles in allen (Evangelien) sich findet, so gelangen die Einzelvorzüge doch nur in je einem derselben zur erschöpfenden Darstellung: Der eine (Evangelist) schrieb ausführlicher über die menschliche Abstammung (Christi) und gab zugleich in ausführlicheren Vorschriften eine sittliche Anleitung des Menschen; der andere begann mit der ausdrücklichen Hervorhebung seiner göttlichen Macht, wie er, ein König von einem Könige, ein Starker von einem Starken, ein Wahrhafter von einem Wahrhaftigen, ob seiner lebendigen Kraft den Tod verachtete; der dritte stellte an den Anfang das Opfer eines Priesters und verbreitete sich in erschöpfenderer Darstellung über die Hinopferung des Opferkalbes (Christus) selbst; der vierte brachte eingehender als die übrigen die Wunder der göttlichen Auferstehung zum Vortrag. So ist also „einer alles und* einer* in allen"41, wie es in der Schriftlesung geheißen hat; nicht in jeder Schrift anders, sondern in sämtlichen wahr dargestellt. ― Doch nun laßt uns an den Wortlaut des Evangeliums selbst herantreten!
Erstes Buch, Luk. 1, 1―25
1. Der Prolog zum Evangelium, Luk. 1,1-4
Verwandte Erscheinungen in der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte: wahre und falsche Propheten (1). Apokryphe Evangelien (2). Die Wirksamkeit der Inspirationsgnade im Hagiographen (3). Das Wort, nicht das Wunder das Mittel der Glaubensverbreitung (4). Vom Schauen des Wortes