Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen: Wenn die Leute in 25 Jahren erwartungsgemäß auch über „die heutige Jugend“ schimpfen, welches werden dann die Hauptprobleme sein?
Die gleichen wie heute: Auch die Jugend der Zukunft wird als respektlos und unpolitisch gelten, als konsum- und markenverliebt; sie wird zu viel Rauschmittel nehmen und sich zu wenig engagieren; statt gute Bücher zu lesen, wird sie weiterhin die Sprache in Comics, Chatrooms, SMS-Botschaften und noch kommenden neuen Kommunikationsmedien verstümmeln; statt reale Beziehungen zu knüpfen, wird sie autistisch vor dem PC sitzen und virtuelle „Freunde“ in Sozialen Netzwerken sammeln. Denn man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, dass die Erwachsenengesellschaft ihre eigenen Sündenfälle und Problemlagen gerne auf „die Jugend“ überträgt. Betrachten wir „die Jugend“ von heute, dann wissen wir, was „die Eltern“ von morgen ihren Kindern in die Schuhe schieben werden.
Dies ist eine ergänzte Fassung des Interviews von Lucia de Paulis vom 22. Februar 2020 (Treffen von Klaus Farin mit Südtiroler Jugendarbeitern, Plattform-Netzwerktreffen vom netz I Offene Jugendarbeit, Jugendzentrum Fly in Leifers, 13.02.2020), veröffentlicht in der Reihe Picobello, einer salto.bz-Reihe über Jugendkultur in Südtirol, s.a.: https://www.salto.bz/it/article/18022020/interview-mit-klaus-farin [11.04.2020]
Die Idee vom Dazugehören
Prasanna Oommen
Auf der einen Seite steht der rechte Heimatbegriff, das Narrativ einer rückwärtsgewandten homogenen Mehrheitsgesellschaft. Demgegenüber steht eine gesellschaftliche Realität, die eine unumkehrbare Vielfalt und damit die Neuen Deutschen repräsentiert. Einen Heimatbegriff dafür gibt es in der Mitte der Gesellschaft noch immer nicht. Kann Kulturelle Bildung Brücken bauen? Nicht solange sie Mechanismen reproduziert, die Menschen ausschließen und ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit verwehren.
Mein Heimatbegriff ähnelt dem Bild einer ewig unglücklichen Liebe: Trotz großer Gefühle führte häufiges Infragestellen irgendwann zu einer distanzierten Haltung. Dies wiederum ermöglichte mir einen anderen, freiheitlichen Blick auf meine Heimat. Der jüdischstämmige Medientheoretiker Villem Flusser war ein Widerständler gegen den traditionellen ortsgebundenen Heimatbegriff: „Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen.“ Als ich diese Sätze zum ersten Mal hörte, schienen sie mir wie für „uns“ gesprochen. Für die Kinder mit migrantischen Wurzeln, die hier stets zu wenig waren. Zu wenig deutsch, türkisch, italienisch, indisch, spanisch, koreanisch etc.
Flusser ging noch weiter, er empfahl Migrant*innen die aktive Rolle der Brückenbauer*in. Doch genau hier tat sich ein Dilemma auf: Mir und vielen anderen mit ähnlichen biografischen Bezügen war genau diese Rolle oft mehr als unangenehm. Unter anderem, weil ich eine Seite der Brücke nicht im Geringsten kannte, sondern mich vielmehr auf das Hörensagen der Eltern verlassen musste. Ich verstand zunehmend, dass wir, die „Neuen Deutschen“, Verantwortung für die eigene Beheimatung übernehmen mussten. Heute, 47 Jahre nach meiner Geburt in einem Land, das nicht die originäre Heimat meiner Eltern ist, bin ich überzeugt, dass es für ein echtes Zugehörigkeitsgefühl von zentraler Bedeutung ist, in der Mehrheitsgesellschaft willkommen zu sein – inklusive der eigenen kulturellen Prägung. Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt die Bedeutung des gesellschaftlichen Miteinanders für sein Heimatgefühl folgendermaßen: „Heimat hat für mich nichts mit Nation zu tun, sondern mit meiner unmittelbaren Lebenswirklichkeit. Die Freunde, die Sprache, was mich jeden Tag beschäftigt.“ Dies bildet sicher einen Teil positiver Heimaterfahrungen ab. Aber aus meiner Sicht sind sie unvollständig, da sie das mangelnde WIR-Gefühl in unserer diversifizierten postmigrantischen Gesellschaft ignorieren und auch wichtige Fragen außen vorlassen: Wer darf wirklich dazugehören und welche Stimmen wollen (sollen?) gehört werden?
Sicher sehnen wir uns nach einfachen Antworten in diesen bewegten Zeiten. Doch ein stabiles Gefühl der Verankerung setzt mehr als positive Erfahrungen Einzelner voraus. Ohne einen starken gemeinsamen politischen Willen sind die Erfolgsaussichten gering. Die Soziologin Cornelia Koppetsch subsumiert unter Heimat „Erinnerungen an Kirchturmglocken und gemähtes Gras aus Kindheitstagen mit drängendsten Problemen der Gegenwart: Herkunft, Bleiberecht, Wanderung und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Stabilität und Vertrautheit.“ Es sind genau diese ungelösten Probleme, die den Heimatdiskurs seit mehreren Jahren konsequent nach rechts lenken. Subversiver Rassismus und die Angst vor dem Fremden in der gesellschaftlichen Mitte sind nach wie vor hoffähig und spätestens seit Thilo Sarrazins islamophober Mission schamlos offensiv zur Schau gestellt worden. „Kümmeltürke“, „Spaghettifresser“, „griechische Parasiten“, „Mafiarussen“, „Kinder statt Inder“1 – die Liste abwertender Stereotype und Ausschlussmechanismen für marginalisierte Gruppen ist endlos und natürlich kein rein deutsches Phänomen. Deutschlandspezifisch ist die späte Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein. Als Jürgen Rüttgers um die Jahrtausendwende Wahlkampf auf dem Rücken der indischen Minderheit machte, verstand auch ich es: Wir gehörten trotz aller Anstrengungen meiner Eltern, trotz einer „Fast-Assimilation“ nicht dazu. Weiterhin gilt: Mehr als 60 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen verfügen die Enkel*innen der Migrant*innen der ersten Stunde noch immer nicht über dieselben Zugänge wie Herkunftsdeutsche. Die sogenannte gläserne Decke, die durch kulturelle Codes unausgesprochen ausschließt, ist nach wie vor gesellschaftliche Realität. Da dies auch für Herkunftsdeutsche aus nicht privilegierten sozialen Klassen gilt, muss sich ein Heimatdiskurs ganz wesentlich am sozialen Zusammenhalt entfachen. Wenn wir also einen Heimatbegriff für alle wirklich wollen, dann sind wir in der Pflicht, ihn aus der rechts-konservativen Ecke zurückzuerobern.
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