Der Mainzer Manager Heidel aber verweigert die Freigabe unmissverständlich, als Tuchel über Kersting darum bittet. „Ich hatte Thomas da schon länger auf dem Schirm, auch als einen künftigen Mann bei unseren Profis“, sagt Heidel. „Unser Nachwuchsleiter Volker Kersting hatte ihn ja erst im vorangegangenen Sommer aus Augsburg geholt und mir schon nach wenigen Wochen der Saisonvorbereitung gesagt, dass wir da ein überragendes Trainertalent gefunden hätten“, sagt Heidel in der Rückschau. „Ich habe mich davon dann auch mit eigenen Augen überzeugt.“ Heidel erläutert Tuchel in einer langen E-Mail, weshalb er ihn nicht gehen lassen wolle. Er legt ihm detailliert dar, welche Wertschätzung er im Verein genießt, wie gut seine Arbeit im Nachwuchsbereich ankommt und wie genau Heidel selbst seine Entwicklung verfolgt. Vor allem aber deutet Heidel unmissverständlich an, dass Tuchel früher oder später ein Kandidat sein wird für den Posten des Cheftrainers. „Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch keine Idee, dass wir uns bald von Jörn Andersen trennen könnten. Wir standen gut da in der Zweiten Bundesliga. Meine Gedanken Thomas betreffend waren eher grundsätzlicher Natur“, sagt Heidel. Tuchel stürzt sich ohne jede Einschränkung wieder in seine Arbeit. Zudem macht ihm Wegbegleiter Kersting unmissverständlich klar, dass sein Weg ihn in nicht allzu ferner Zukunft in die Bundesliga führen werde. Als Dank für dieses Zureden wird ihm Tuchel später, als er erstmals zum „Trainer des Jahres“ in Deutschland gekürt wird, ein Foto schenken, auf das er mit einem Filzstift schreibt: „Du hast als erster daran geglaubt. Ich danke Dir. Dein Freund Thomas.“ Das Bild lehnt heute hinter der Sitzecke in Kerstings Büro auf der Sofakante an der Wand.
Der Gewinn der Deutschen A-Junioren-Meisterschaft ist der schnelle Lohn dafür, dass sich Tuchel mit der Situation arrangiert. Seine Mannschaft besiegt im Finale Borussia Dortmund mit 2:1. Eugen Gopko erzielt das 1:0, zum Ausgleich für den BVB trifft ein gewisser Mario Götze, der in diesem Match erstmals seinem späteren Kumpel und WM-Siegtorvorlagengeber André Schürrle begegnet. Robin Mertinitz erzielt schließlich mit einem Schuss aus gut 25 Metern in der 68. Minute den Siegtreffer. Auf der Tribüne sind über 10.000 Mainzer Fans begeistert vom ersten richtigen Meistertitel des Klubs, der bis dahin nur den deutschen Amateurmeistertitel von 1982 im Briefkopf stehen hat. Und die Fachleute erkennen, dass vor allem auch ein Trainer hier sein Meisterstück abgelegt hat. Zu ihnen zählt auch Jürgen Klopp, der aus einer Loge heraus gemeinsam mit seinem Freund Christian Heidel die Partie anschaut. Klopp, der Mainz 05 knapp ein Jahr zuvor nach elfeinhalb Spieler- und siebeneinhalb Trainerjahren verlassen hatte, erholt sich in der Sommerpause in seinem Mainzer Haus von der ersten Saison als Trainer von Borussia Dortmund. Der Besuch ist für ihn also auch Teil seiner Arbeit, weil er sich ein Bild machen kann vom Dortmunder Nachwuchs, der so stark besetzt ist wie selten: Mario Götze gilt als Ausnahmetalent, das seinen Weg gehen wird. Hinzu kommen der türkische Juniorennationalspieler Tolgay Arslan und deutsche Auswahlspieler wie Daniel Ginczek oder Marcel Hornschuh. Sie alle zählen zu den größten Talenten des Jahrgangs. „Heute hat die bessere Mannschaft gegen eine Mannschaft mit zehn besseren Spielern gewonnen“, sagt Klopp nach dem Abpfiff zu Heidel. Nur Schürrle hätte Klopp einen Platz in der Dortmunder Mannschaft eingeräumt. „Klopps Worte waren das größtmögliche Lob für Tuchel“, sagt Heidel. Immerhin schaffen es aber später neben Weltmeister Schürrle, den langjährigen Bundesligaprofis Kirchhoff und Bell noch weitere fünf Spieler aus der Mainzer Meisterelf, erstbis drittklassig als Profi Geld zu verdienen. Eine solche Quote hatte das Nachwuchsleistungszentrum am Bruchweg zuvor nie erreicht.
Der Erfolg hatte auch eine spirituelle Quelle: Auf der Rückreise im Bus vom Halbfinalsieg in Bremen am Sonntag zuvor spricht Tuchel seinen Förderer Volker Kersting kurz nach der Abfahrt an. „Er sagte nur ‚Volker‘, und da wusste ich schon, was kommt“, erinnert sich Kersting. „Ich hatte es schon befürchtet. Er wollte unbedingt auf den Berg hinauf und den Pin ausgraben.“ Der Mannschaft will Tuchel die Tour bei nur einer Woche Vorbereitung aufs Finale nicht zumuten. Also fährt er mittwochs nach dem Training in einer Nacht- und Nebelaktion gemeinsam mit Kersting und Norman Bertsch, der zu Saisonbeginn noch Co-Trainer war, mittlerweile aber ausgerechnet bei Borussia Dortmund unter Sven Mislintat angestellt ist, nach Obsteig. Am Abend sitzen die „Schatzsucher“ gemütlich mit dem Hotelbesitzer zusammen, der daraufhin zusagt, am nächsten Morgen an der Expedition teilzunehmen. Mit dem Sonnenaufgang macht sich der Trupp auf den Weg. Die Ausgrabung lässt Tuchel filmen. Dann geht es zurück ins Tal. Auf der Heimfahrt geraten Tuchel, Kersting und Bertsch in einen Stau, das Training der A-Junioren in Mainz wird unter fadenscheinigen Gründen um eine Stunde verschoben. Die Mission soll geheim bleiben. Tuchel will sein Team nämlich am Tag des Endspiels mit einem besonderen Momentum auf den Rasen schicken. Während sich das Team auf dem Rasen warm macht, werden in der Kabine ein Projektor und eine Leinwand aufgebaut. Auf einem Tisch in der Mitte steht eine Abdeckglocke, wie man sie aus feinen Restaurants kennt. Darunter versteckt liegt der Pin. Tuchels letzte Ansprache an seine Mannschaft ist kurz. Dann schaltet er das Licht aus und das Video läuft an. 30 Sekunden dauert es ungefähr, bis Tuchel im Film den Pin in die Kamera hält und seiner Mannschaft vermittelt: „Da ist unser Schatz! Wir haben unser gemeinsames Versprechen gehalten! Wir haben für euch den Pin wieder geholt! Und jetzt erfüllen wir uns unseren Traum vom Titel!“ Dann hebt er die Glocke hoch und gibt seiner Mannschaft noch mit auf den Weg, dass dieses Endspiel nun der nächste Anstieg auf einen Gipfel sei, auf dem ein Schatz verborgen sei: der Meisterpokal. „In dem Moment waren die Jungs in der Kabine so was von heiß. Das kann man gar nicht beschreiben. Es hat geknistert in der Kabine. Die waren voll mitgenommen, die waren bereit. Ich erinnere mich an die Augen, in die ich geblickt habe. Die hätten jeden Gegner schlagen können“, erinnert sich Volker Kersting. Doch dann geht die Tür auf.
Das Team bekommt die Nachricht, dass Vereinsmanager Christian Heidel wegen des großen Zuschauerandrangs den Anpfiff um 15 Minuten verschoben hat. „Ich dachte nur: Das ist jetzt nicht wahr. Das war wirklich der einzige Moment in meinem Leben, in dem ich Christian Heidel hätte erschießen können“, lacht Kersting. Auch Thomas Tuchel ist einen Moment lang sprachlos. Dann sammelt er sich, lässt die Mannschaft noch einmal kurz entspannen und pusht das Team abermals hoch, ehe es endlich auf den Platz geht. Dennoch wirkt die Mannschaft zu Beginn des Spiels ein wenig paralysiert. Sie scheint sich