Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Engel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467039
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still.

      Nur der Fluss plätscherte an das Bollwerk. Und ganz vom Ende der Gasse, wo der alte Kückeweih wohnte, den die Stadt als Leichenfischer angestellt hatte, klang eine verstimmte Geige herüber.

      Der alte Fischer sang dazu:

      „Ich hatt’ einen Kameraden,

      Einen bessern find’st du nicht.“

      Da rückte Toni dicht an Gust heran, und nachdem sie den Schirm über sich und den Jugendfreund ausgespannt hatte, schob sie auch noch den Arm vertraulich unter den seinen, was sich der Gymnasiast ohne besondere Regung gefallen liess.

      „Du, Gust,“ hob sie fröstelnd an, während sie rasch hinter sich auf den erleuchteten Vorhang wies, „bei uns zu Hause, da wird auch schon wochenlang beraten. Über Karl. Er soll ja durchaus viel Geld verdienen. Immer bloss Karl. Um mich kümmert sich wieder kein Mensch.“

      Als sie das sagte, zitterte plötzlich ihr Körper, und ihre vollen roten Lippen bebten wie im Frost.

      Gust starrte sie durch die Finsternis an.

      Und sein Geist ward abgelenkt.

      Wirklich, er war all die Jahre hindurch so vollkommen in dem gläsernen Hause seiner Träume eingeschlossen gewesen, dass er das allmähliche Aufwachsen dieser Seele neben sich überhört oder übersehen haben musste. Ja, jetzt war er im höchsten Grade erstaunt, dass da überhaupt etwas sich Entfaltendes neben ihm sässe.

      „Du, Toni?“ fragte er verwundert, „entbehrst du denn das?“

      „Was?“

      „Dass man sich um dich zu Hause weniger kümmert?“

      Sie wischte sich mit einer raschen Bewegung die Nebelperlen von dem dunklen Jackett, und ihr frisches Antlitz entfernte sich etwas von Gust.

      „Ich bin jetzt in dem Alter,“ gab sie trotzig zurück, „wo man jemand besitzen muss, den man lieb haben kann. Das verstehst du noch nicht.“

      So sprach die Siebzehnjährige.

      Gust ging ins neunzehnte Lebensjahr.

      „Du hast doch deinen Vater,“ tastete Gust vorsichtiger, der zu seiner grössten Überraschung empfand, dass er hier an etwas Fremdes, ihm bisher Unbekanntes rühre.

      Das war das Weib.

      Aber Gust, der bereits von braunen Zöpfen und schlanken Hüften träumte, wusste es trotzdem nicht.

      Neben ihm bewegte sich das Mädchen und blickte vor sich nieder.

      „Ja, meinen Vater,“ erwog sie. Und dann setzte sie rasch entschlossen hinzu: „Aber er hat nichts zu sagen. Wenn ich bloss ein Mann wäre wie du, o wie wollte ich dann —“ Hier schwieg sie und breitete die Arme aus, als wünsche sie etwas an sich zu ziehen.

      „Was würdest du?“ forschte Gust, zur Seite rückend.

      „Nichts — nein — das weisst du noch nicht.“

      Dieses Urteil war für einen Helden, der eben noch auf arabischem Hengst der Welt vorangeritten war, ein wenig zu unfreundlich.

      Verletzt zog Gust deshalb seinen Arm von dem ihrigen fort und äusserte mit festem Ton: „Du bist in letzter Zeit sehr hochmütig geworden, Toni.“

      Da wurde sie auf einmal ganz bestürzt, und indem sie sich sachte mit ihrem Arm wieder an den seinen drängte, lächelte sie verlegen: „Ach nein, das musst du nicht glauben, Gust; zu dir nicht.“

      „Es kommt auch einem Mädchen garnicht zu,“ vollendete nun Gust stolz. „Der Mann ist überall mehr wert. Sogar nach kunstästhetischen Gesetzen ist der männliche Körper schöner, als der weibliche.“

      „Wirklich?“ räusperte sich Toni erstaunt und dabei beugte sie ihren Leib ein wenig nach vorn, und aus ihren blitzenden blauen Augen sprühte ein unverhohlenes, wohlgefälliges Lachen:

      „Das ist ja alles Schnack, Gust — hier, komm und fühl eins, wie rund und fest meine Arme geformt sind. Is das nich’ hübsch?“ —

      Allein Gust rückte schnell von ihr fort: Darauf käme es nicht an, bemühte er sich hochfahrend und belehrend vorzubringen, obwohl ihm die Stimme vor Verlegenheit zitterte. Das Zweckmässige und die Muskulatur seien die Hauptsache.

      Darauf schwiegen sie wieder eine Weile.

      Toni zog sich den Ärmel straff, und Gust bemühte sich, in die dunkle Nacht zu starren, die aus schwarzem, zahnlosem Mund zu ihnen herüber grinste.

      Die alte Urmutter spottete heimlich über das immer sich gleich bleibende Ringen der Geschlechter.

      Als der Regen jedoch stärker und immer stärker auf ihren Schirm zu trommeln begann, sagte Toni unvermittelt mit einer wegwerfenden Gebärde:

      „Wirklich, das ist ja alles Schnack. Ihr Jungen seid für vieles eben noch zu dumm. — Aber sag’ mal, wird Karl das Examen übermorgen bestehen?“

      Gust nickte gleichgültig und dachte nach.

      Tonis Bruder war gegen die Lehrer stets gefällig gewesen, zudem hielten sich seine Leistungen gewöhnlich auf einem anständigen Mittelmass. Warum sollte er die Prüfung nicht durchmachen?

      „Und du?“ fragte Toni nun gespannt und kehrte ihm rasch ihr Antlitz zu, dessen weisse und rote Farben sogar durch die Nacht zu leuchten schienen.

      „Bei mir ist das etwas anderes,“ gab Gust hochaufatmend zurück, und durch seine hagere Gestalt strömte etwas von dem Wesen Napoleons: „Sieh, Toni, du musst nicht darüber sprechen. Aber weisst du, warum ich nicht die geringste Furcht habe, sondern im Gegenteil die grösste Zuversicht? Das kommt daher, weil alle Nationen ihre gesamte Volkskraft, ihre besten Tugenden, wie Treue, Tapferkeit, Phantasie, Stärke in einzelnen Menschen verkörpern. So ist das auch bei Napoleon gewesen, und ich habe die Ahnung, dass das bei mir auch der Fall sein kann.“

      „Aber, um Gottes willen,“ erschrak Toni und ergriff unwillkürlich seine Hände. „Du wirst dich doch nicht neben den Kaiser stellen wollen?“

      Ohne es zu wissen, begann er krampfhaft ihre Finger zu pressen, und sie, die Freude an dem starken Druck empfand, überliess sie ihm willig. Und dann strömte es in stolzer Rede von seinen Lippen wie ein junger Gebirgsbach, der ungeheure Steine, die jahrtausendelang in ihrer ordnungsvollen Ruhe gelegen, schmetternd zu Tal stürzt.

      So klang es der Gebannten ins Ohr.

      Unermesslich wäre eben das Unglück, dass sich nicht neue Menschen neben die ganz Grossen zu stellen wagten. Die ungeheure Mutlosigkeit und Bedrückung, die auf dem jetzigen Geschlecht lägen, unter ihnen verkümmere alles. Aber jetzt sei endlich die Zeit der Erfüllung, denn nach dem Ausspruch eines genialen Philosophen, den er erst kürzlich gelesen, brauche man nur den Willen, den ganz festen, unerschütterlichen Willen zur Macht zu besitzen. Und den spüre er in sich, dass es ihm fast in den Händen zucke.

      O, du sollst mal sehn — du sollst mal sehn!“

      Toni sass neben ihm in ihrer frischen Natürlichkeit, die sich nur an das Greifbare hält, und alles, was sie von seiner Empfindung erfasste, das war der berauschende Klang seiner Worte und der sich immer mehr verstärkende Druck der Hand.

      Wie es in diesen Fingerspitzen fieberte, das teilte sich ihr stark und rieselnd mit.

      „Ach, Gust,“ stotterte sie endlich bewundernd.

      „Was, Toni?“

      „Ich wünschte, dass sich dir alles erfüllte. Und dass du mal ein recht reicher Mann würdest.“

      So — da hatte sie ihm in ihrer derben Erdenhaftigkeit den goldenen Stuhl hingesetzt und den silbernen Fussschemel davor gerückt. Strahlendere Schätze barg ihre Phantasie nicht, aber den aller Gegenwart Entrückten stach das plötzliche Wort, das so sehr der Erde gehörte, es verletzte ihn förmlich.

      „Lass das,“ gab er unsicher zurück.

      Zugleich empfand er, dass