„Wofür bedankt er sich eigentlich?“ sagte Cornelsen.
Raymund lachte: „Ich habe ihm hundert Mark in die Hand gedrückt.“
*
Die drei hatten weder um die Gunst des kleinen Dicken an der Kasse gebuhlt, noch hatten sie den Billetteur geschubst, noch hatten sie an Herrn Jean Coupots kleines Fenster geklopft. Vielmehr hatten sie drei Logenplätze gekauft, die der Herr Direktor an der Kasse — der im übrigen noch kleiner und noch dicker war, als sie erwartet hatten — erst unter besonderen Zeremonien zu Logenplätzen umgewandelt hatte; als die drei den Zuschauerraum betraten, sahen sie mit Erstaunen den kleinen Dicken unter Assistenz desselben Billetteurs, dem Herr Coupot hinterhältigerweise einen Schubs zugedacht hatte, eine Loge herrichten. Dies geschah unter Anwendung einer drohenden Schnur aus Stacheldraht, die rostig und feucht war und auf einen längeren unbewachten Aufenthalt draussen auf dem Rummelplatz schliessen liess.
„Wir könnten jetzt warm und weich im ‚Alten Ballhaus‘ sitzen“, sagte Kurt Cornelsen kopfschüttelnd. „Statt dessen paradieren wir mit unseren Pelzmänteln mang die Bowkes.“
„Das ist doch gerade amüsant“, widersprach ihm Westermann mit einem mutigen Blick auf seine Muskeln, die schwellend in den Ulsterärmeln prangten. „Ausserdem findest du hier viel mehr wahre Ethik als in den parfümgeschwängerten Salons des Westens.“
„Stimmt!“ bestätigte Raymund mit einem Blick auf eine knospende Schönheit, die die drei mit der Ungeniertheit der wahren Unschuld anstaunte, wobei sie sinnend in der Nase bohrte.
Zuerst trat ein Mann auf, der ein kleines Schwein im Arm hielt. Es war als Baby angezogen, und sein Herr steckte ihm eine Milchflasche mit einem Schnuller ins Mäulchen, an dem das kleine Schwein begierig lutschte.
„Bravo!“ sagten ein paar Leute in den hintersten Reihen.
„Pst!“ mahnte jemand, gerade so, als ob man Gefahr liefe, einen Ohrenschmaus zu versäumen.
Dann zog der Produzierende seinem Schweinchen eins der Kleidchen nach dem anderen aus, Windeln kamen zum Vorschein, was bei den Damen, die dies unendlich pikant fanden, Husten und Kichern hervorrief. Endlich kam ein nackter kleiner Schweinekörper zum Vorschein, und als Clou setzte der Artist das Schweinchen auf ein kleines Töpfchen.
Ein Beifallssturm raste durch das Haus; unter vielen Verbeugungen, an denen sich auch das Schwein beteiligte, verschwand die erste Nummer, und eine Bierpause trat ein.
Dann erschienen ein paar Männer, die das Publikum aufforderten, sich mit ihnen im Boxkampf zu messen. Sie sahen mit ernsten Gesichtern um sich, den Körper schlaksig wiegend, muskulöse Treuherzigkeit im Gesicht. Ihr Auftreten wirkte entschieden vertrauenerweckend, man hatte das Gefühl: wenn man mit einem dieser Männer des Nachts durch die Ackerstrasse ging, konnte einem nichts passieren (es sei denn von ihm selbst, aber dagegen sprach eben jene muskulöse Treuherzigkeit). Sie verhiessen dem, der sie werfen würde, die unerhörtesten Goldpreise, und als sie mit ihren Angeboten auf fünfzehn Mark angelangt waren, stieg ein Tiroler entschlossen, noch treuherziger im Gesicht als jene, über das Tau, das die Manege säumte. Er hatte klimpernde Orden auf der Brust, die um so mehr imponierten, als niemand sich erklären konnte, wofür sie eigentlich verliehen waren.
„Dieser Mann, Herr ... Herr ...“
„Alois Huber.“
„... Herr Alois Huber aus ...“
„Aus Ober-Nieder-Tupfingen.“
„... aus Oberbayern ...“
„... aus Ober-Nieder-Tupfingen!“
„... aus Ober-Nieder-Tupfingen will den Versuch machen, den von der Direktion gestifteten Goldmarkpreis in Höhe von fünfzehn Mark zu gewinnen. Meine Herrschaften, es wird im Zirkus Salandra nach allen Regeln des Sports geboxt, das Publikum selbst wird gebeten, die einzelnen Gänge zu beobachten und eventuell verbotene Griffe auf der Stelle zu rügen.“
„Gemacht!!!“
Der Sprechende schien den Ausruf als ein Kompliment zu nehmen, denn er verbeugte sich geschmeichelt.
„Und nun, Herr Tupfer aus Ober-Nieder-Bayern ...“
„Huber aus Ober-Nieder-Tupfingen!“
„Pardon, Herr Huber ...“
„Mensch, tu nich so,“ schrie einer, der am Büfett stand, „du kennst ihn doch, er ist doch hier angestellt und ringt jeden Abend mit euch!“
„Ach, Herr Billetteur, befördern Sie diesen jungen Mann doch einmal an die Luft!“
„Gibt’s nich, Fritze bleibt hier!“
„Dann soll er ruhig sein!“
„Wenn da aber doch ...“
Der Rekommandeur streifte die Ärmel auf; man wusste nicht recht, ob er mit dem Boxkampf anfangen oder ob er Fritze eine Drohung zukommen lassen wollte. Da nichts erfolgte, nickte er befriedigt und sagte mit ruhiger, siegesgewisser Stimme: „Nu geht es los.“
„Wann kommt denn eigentlich die ‚Glühende Gasse‘?“ fragte Cornelsen.
„Wird schon kommen.“ Westermann sah ein wenig ungeduldig zu den Boxern hinüber; Raymund stand auf, und auch Cornelsen erhob sich.
„Was wollt ihr?“
„Was kann er wollen,“ sagte Cornelsen achselzuckend, „durch das kleine Fenster will er glupen.“
„Wie kann man bloss, wo es jetzt interessant wird!“
„Warum boxt du eigentlich nicht mit?“ fragte Cornelsen, indem er geschickt über den Drahtverhau kletterte.
„Kommt noch.“
„Also Hals- und Beinbruch!“
„Ihr werdet euch erkälten.“
„Und wenn du mit Engelzungen redetest,“ lachte Raymund, „wir gehen doch!“
Der Direktor sah die beiden erstaunt und sichtlich beleidigt an; aber als sie ihm erklärten, sie würden zur Hauptnummer wiederkommen, gab er ihnen Kontermarken.
„Schieber!“ scholl es hinter ihnen her. Überrascht sahen sie sich um.
„Er meint die Boxer“, belehrte sie der Direktor.
Da waren sie beruhigt.
Kalte Winternacht schlug ihnen entgegen. Der Schein der Gaslaternen flimmerte über die Spanten des Vielecks, die die Konturen des grossen Zeltes bildeten. Durch das verwitterte Segeltuch drang gedämpft das Träträ der Blechmusik. Schutt und Gerümpel säumten den dunklen Platz, der ausgespart war zwischen Brandmauern und Hinterfronten hoher Mietkasernen; die düsteren Reihen der Fenster wurden hie und da unterbrochen von starrem Lichtschein, der die Finsternis teilte, ohne sie zu erhellen.
Selbst diese elende Baracke schien nicht des seltsamen Reizes zu entbehren, den die Mischung von geheimnisvoller Erwartung, verhaltener Erotik und Menschengeruch hervorbringt. Habitués des Rummelplatzes, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze schief auf dem vorgekämmten Haar, strichen schattenhaft zwischen den Mauern, das unruhige Auge spähend, verschlagen und keck. Kichernd flüsterten frühreife Vierzehnjährige in den Schlagschatten der Ecken und Winkel, mit Röcken von betonter Kürze. Ihre Blicke, in denen längst erwachtes Zielbewusstsein flimmerte, trafen sich mit denen der Vorübergleitenden. Der Geruch von Schmalzgebackenem mischte sich mit der erregten Atmosphäre zum charakteristischen Duft der Vorstadt.
Von innen hörte man Händeklatschen, die Musik setzte aus, Zurufe, gedämpft und unverständlich, schwirrten. Ein Tusch stieg, wieder setzte Applaus ein.
„Es klingt, als wenn Erbsen niederprasseln“, sagte Cornelsen.
Eine niedrige Tür an der Hinterfront des Zeltgebäudes tat sich auf, Lichtschein fiel einen Augenblick auf das schmutzige Brachland. Es war Jean Coupot, der Artist; es schien, als hätte er die beiden