Julia lief vor, ein älterer Herr mit angegrautem Haar saß allein am Steuer.
»Ach, bitte«, zirpte sie, »wir sind schon so müde … könnten Sie uns nicht bis zur Grenze mitnehmen?«
»Nein, meine liebe junge Dame … ich habe nur deshalb gehalten, um mal ein ernsthaftes Wörtchen mit dir zu reden! Weißt du denn nicht, daß es sehr gefährlich ist, Autos anzuhalten? Hast du keine Angst?«
»Wovor soll ich denn Angst haben? Sie tun mir doch nichts!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ach, das sieht man doch … Sie haben so gute Augen!«
»Nun, der Schein trügt, mitnehmen werde ich dich jedenfalls nicht!«
»Aber ich bin doch so müde!«
»Wenn man müde ist, dann bleibt man zu Hause!«
»Wir wollen doch bloß ein kleines Stück von der Welt sehen … nur so ein ganz kleines Stückchen!«
»Wir? Wer ist wir?«
»Ich und mein Bruder!«
»Erstens heißt das … mein Bruder und ich, und zweitens … wo ist denn dein Bruder?«
»Jan!« rief Julia laut. »Jan!«
Und da kam er auch schon angetrabt, in jeder Hand einen Rucksack.
»Ach, bitte, nehmen Sie uns doch mit!« bettelte Julia.
»Na schön, sonst kriege ich euch ja doch nicht los! Aber merkt euch eines … wenn man per Anhalter fährt, muß man ein bißchen vorsichtig sein!«
Julia benahm sich wie eine Schönheitskönigin persönlich. »Steig du hinten ein«, kommandierte sie ihren Bruder, »ich bleibe vorne!«
»Macht schnell«, sagte der Fahrer. »Ich habe es eilig!«
Er schien es wirklich eilig zu haben, seinem Tempo nach zu urteilen.
Kurz vor der Grenze bremste er scharf. »So … ich bin hier zu Hause!«
»Hier sind Sie zu Hause?« fragte Julia erstaunt.
»Sie sind wohl von der Grenzpolizei?« fragte Jan.
»Richtig geraten … hoffentlich sind eure Papiere in Ordnung!«
»Na klar!« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde und zückten ihre Ausweise.
Der Mann mit den grauen Schläfen, Leiter der Grenzpolizeistelle Brenner, selber leidgeprüfter Vater, gab Jan und Julia noch einige Ratschläge: »Wenn ihr schon per Anhalter fahren müßt, dann sucht euch möglichst Wagen aus, in denen Frauen am Steuer sitzen oder Ehepaare … oder laßt euch von Lastwagen mitnehmen, deren Firmenzeichen deutlich sichtbar sind … das ist immer noch das Ungefährlichste!«
»Machen wir!« versprach Jan.
»Und vergeßt nicht, wenn ihr jetzt nach Italien kommt, dann ist das für euch das Ausland … aber für die Italiener seid ihr die Ausländer! Denkt immer daran … euch hat niemand in das fremde Land gerufen, ihr seid von selber gekommen. Deshalb muß euch alles so gefallen, wie es ist. Sagt nicht, bei uns zu Hause ist es sauberer, billiger, besser, nehmt, was euch geboten wird, nehmt es so, wie es ist! Denkt immer daran: andere Völker, andere Sitten!«
»Werden wir uns merken«, versprach Julia.
»Ich will es hoffen! So wie ihr euch aufführt, so wird man euer Land und seine Bewohner einschätzen! Verstanden?«
»Jawohl!«
»Ihr könnt ja hin und wieder ein albergo’ diurno aufsuchen …«
»Was ist denn das?« wollte Julia wissen.
»Ein Tageshotel! Da könnt ihr euch für Stunden ein Zimmer mieten, könnt euch waschen, frisieren, eure Kleider bügeln … kurzum, euch wieder in Ordnung bringen!«
»Aber schlafen kann man dort nicht?«
»Zum Schlafen sucht ihr besser ein allogio auf, ein Gasthaus, da bekommt ihr für wenig Geld ein sauberes Zimmer.«
Der Mann mit den grauen Schläfen warf einen Blick auf seine Armbanduhr, stellte fest, daß er seinen Dienst antreten mußte, und gab Jan und Julia die Hand. »Alles Gute!« wünschte er ihnen. »Und seid vorsichtig!«
»Gibt’s in Italien denn noch Räuber?« fragte Julia.
»Nicht mehr als anderswo!« sagte der Mann mit den grauen Schläfen, und fort war er.
Diesmal waren die Grenzformalitäten rasch überstanden, die Zwillinge hatten ihre Ausweise bei der Hand, und dann war der große Moment gekommen: Sie waren wirklich im sonnigen Süden!
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