Lill. Der Roman eines Sportmädchens. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507292
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sich. Das hat mit unserer Kameradschaft draussen gar nichts zu schaffen! Wir wollen nur ein paar Jahre freie Menschen sein und nicht bloss Bähschafe auf dem Heiratsmarkt . . . Wir wollen uns erst mal selber körperlich und geistig finden und entwickeln, um mal ernsthaft zu reden! Für mich ist der Sport dasselbe wie für Dich Dein Salon . . .“

      „Mein Gott — hindere ich Dich denn? Das hab’ ich längst aufgegeben! Wir Mütter alle! Es würde ja auch nichts helfen . . .“

      „Na eben, Mama!“ sagte Lill versöhnlich. „Nun vertragen wir uns wieder! Sei unbesorgt! Mir tun die bösen Männer nichts. Ich kenn’ sie. Ich weiss genau, was ich zu tun hab’! Ich hab’ mich so fest in der Hand wie meinen Gaul! Und nun ist’s höchste Eisenbahn, dass ich ankurbele und nach Berlin hineinpace! Adieu, Mama!“

      Lill drückte mit ihren roten Lippen der Mutter einen sanften Kuss auf die Wange. Es war eine mädchenhaft weiche, beinahe kindliche Bewegung. Sie stieg, in ihrem Männer-Reitanzug, vorsichtig die Treppe hinab, mit seitlings aufgesetzten Stiefeln, um nicht mit den Sporen am Teppich der Stufenkanten hängenzubleiben. Im ersten Stock war Radau um das Telephon. Die ganze Blase — das Baby, die Bine, der Frid, die Mab, der Bruder Geo wiederholte, die Muschel am Ohr, die Meldungen von den heutigen Nachmittagsereignissen im Concours hippique:

      „Still doch, Baby — also Materialprüfung. Preis des Landwirtschafts-Ministeriums. Klasse I für Drei- und Vierjährige . . .“

      Lill fesselte das nicht. Nur der Sport des Abends — das wilde Jagdspringen, mit Totalisator, Buchmacher, krachenden Hürden, Lärm. Sie liess das Gegacker am Fernsprecher hinter sich. Aber sonderbar — wie sie zum Erdgeschoss hinabstieg, tönte, durch den Spektakel oben, durch die tiefe Stille unten, eine gleichmässig laute, weiche, merkwürdig eindringliche Männerstimme. Die fremde Stimme sprach in einem fort. Niemand unterbrach sie . . .

      Ein Geschäftsfreund von Papa? So lange hörte der ja gar nicht zu. Ausserdem kam er immer erst kurz vor Tisch mit achtzig Kilometer aus Berlin angetöfft. Besuch für Mama? Aber die sass ja oben. Also wer schwang denn da eigentlich eine Volksrede und vor wem? Auch noch etwas von Sport — schien es . . . Lill horchte. Die Männerstimme verkündete langsam und deutlich:

      „Was war das Schicksal der klassischen Heimat aller Leibesübungen? Was wurde aus Hellas? Nun — dies unerreichte Vorbild körperlicher Harmonie erwies sich — die Perser ausgenommen — als hilflos gegen jeden äusseren Feind. Griechenland seufzte durch mehr als zwei Jahrtausende ununterbrochen unter dem wechselnden Joch der Makedonier, Römer, Byzantiner, Franzosen, Spanier, Venezianer und Türken.“

      Wo kam denn das Gequatsche her? Lill schaute sich um. In der Diele war keine Menschenseele. Es fing wieder an.

      „Die deutsche Unsterblichkeit liegt in dem Faust von Goethe und nicht in der Faust des Boxers. Muskelrausch, Athletenvergötterung, Kniefall vor dem Körper waren immer Anzeichen dafür, dass eine Zeit ihren kranken Geist aufgab. An seine Stelle tritt dann der gesunde Leib. Aber er ersetzt ihn nicht. Nie wird der Diener den Herrn, der Leib den Geist ersetzen!“

      Das Gekolke kam aus dem leeren Tanzsaal nebenan. Lill lief hinein und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirne. Na natürlich: Wie das Telefon oben bimmelte, war die ganze Gesellschaft vom Tanz weg zu den Sportnachrichten hinaufgestürmt und hatte verschwitzt, das Radio abzustellen. Nun war da inzwischen die Teemusik zu Ende, und es hatte ein Vortrag begonnen.

      „Was ist Spanien von seiner Weltherrschaft geblieben? Nur das Stiergefecht als Totenfest!“ tönte es aus dem Lautsprecher. Lill schaute mit krauser Stirn hinein. Diese weiche, sanfte Stimme erschien ihr auf einmal bekannt. Eine Erinnerung kam ihr. Sie trat zum Tisch, blätterte das Wochenprogramm auf. Richtig: Heute — von 18 Uhr ab bis 18 Uhr 25 Minuten Vortrag des Dr. med. Ludwig Hormuth: „Die kranke Zeit.“

      „Die Krankheit unserer Zeit heisst Abzehrung im Geist. Wir haben unser geistiges Erbe ausgeschlagen, weil wir nicht mehr an dies Erbe, an die überkommenen Tafeln der Gesetze, glauben. Der neue heilige Geist aber will uns nicht erscheinen. Inzwischen löst sich der Körper von der Kette. Daher die Massenflucht aus der seelischen Sahara in das trügerische Mekka der Muskeln . .“

      „. . . ach was . . .“ Lill tippte, den Blick schon nach dem Auto draussen, mit dem Zeigefinger auf den Kopf. Plötzlich war alles still.

      Um den Dr. med. Ludwig Hormuth in seiner Zelle, vier Treppen hoch in der Potsdamer Strasse, war überhaupt schon die ganze Zeit hindurch alles still. Er stand und sprach in die geheimnisvolle, faustgrosse, längliche weisse Kapsel vor ihm. Er vernahm nur seine eigenen Worte. Er wusste nicht, hörten Hunderte zu, Tausende, Zehntausende? In Berlin? In Deutschland? In Europa? Es kam kein Widerhall aus der grossen Leere.

      Der Jrrenarzt machte eine grosse Pause. Er wandte über die etwas zu hohe rechte Schulter das feine, blasse, kränkliche Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart zu dem Stoss seiner winzig bekritzelten Manuskriptblätter und nahm das nächste. Er las weiter, den zartgeschnittenen Mund gegen das Mikrophon, die dunklen Augen auf den Zeilen. Von oben überspiegelte das elektrische Lämpchen die hohe, mächtig gewölbte Stirn und den für den dürftigen Körper zu grossen, kahl schimmernden, nur seitlings von schwarzem Kraushaar umkränzten Schädel.

      Nun hatte er geendet. Er öffnete die Polstertür seines Verschlags, schritt über die dicken Teppiche des Ganges, an dessen Wänden in grossen Lettern das Wort „Ruhe!“ leuchtete, langte im Künstlerzimmer seinen Mantel aus dem Schrank und fuhr im Lift hinunter in das lichterhelle, abendliche Gewoge Berlins.

      Auf der Strasse kaufte er sich eine Abendzeitung und setzte sich damit in ein Kaffeehaus am Potsdamer Platz. Er konnte von da das Zifferblatt der Normaluhr sehen. Sein Gepäck war schon auf dem Bahnhof. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zur Heimfahrt. Er schaute auf den Berliner Betrieb hinaus. Auf dem Verkehrsturm wechselte farbiges Licht. Die Schupos unten müllerten. Die Strassenbahnwagen, Autos, Fuhrwerke schoben sich wie grosse Käfer dahin. Schwarze Ketten von Fussgängern kribbelten schnell, gleich Ameisen auf der Wanderschaft, zwischen ihnen durch. Der kleine, blasse Herr beobachtete es längst nicht mehr. Er hielt die Zeitung vor die Augen. Er las das Programm für den letzten, heutigen Abend des Concours hippique. Ross und Reiter wurden hier in Randbemerkungen gewürdigt. Da stand auch: „Inwieweit ,Zappelphilipp’ unter Fräulein Bödiger, der bisher unerwartet gut abschnitt, in dieser hohen Klasse etwas zu suchen hat, wird ja der Verlauf der Dinge lehren . . .“

      Nun mahnte die Normaluhr: Zeit zum Zug. Dr. Hormuth sprang hastig auf, zahlte, winkte draussen einen Taxameter . . . Zögerte . . .

      „Wissen Sie eigentlich, wo heute abend der Concours hippique ist?“ frug er den Chauffeur. Der Mann nickte. Wartete. Und steuerte, da der Gast wortlos einstieg, den Wagen durch die Brandung des Potsdamer Platzes zum Westen, in der Richtung zum Pferdeturnier.

      Als eine kleine Reitbahn in irgedeinem Tattersall mit einem schütteren Kranz wohlwollender Sachverständiger und Familienangehöriger umher — so ungefähr hatte sich der Arzt aus der Provinz den Tummelplatz eines Concours hippique vorgestellt. Er stand am Eingang einer beinahe unabsehbaren, unwahrscheinlich sich in der Ferne verlierenden kirchenhohen Raumwölbung. Er sah auf ein Meer von Tausenden von Köpfen bis hoch zu der bläulich umwölkten Galerie. Die Riesenhalle schwamm in einer Flut von Licht. Sie war von schmetternder Musik überrauscht, von Stimmengewirr wie vom Summen eines Bienenschwarms durchbraust. Wo kamen alle diese Menschen her — alles gut angezogene Herren und Damen, die ruhig und gesittet, mit gespannten und befriedigten Gesichtern, in ihren Logen und auf ihren Sesselreihen sassen! Was verstanden die Berliner von Gäulen? Aber da war ein jähes Händegeprassel, begeisterte Bravorufe um einen jungen Reichswehr-Offizier, der wie ein grauer Blitz plötzlich auftauchte, in einem Zug über ein Dutzend Hürden oder mehr dahinschoss und ebenso schnell wieder verschwand. Ein Tosen von Beifall hinterher. Eine reine Freude an Mann und Ross und Tat bei all diesen unzähligen Leuten, von denen nur die allerwenigsten je auf einem Pferderücken gesessen haben konnten. Der Jrrenarzt ahnte plötzlich etwas von der weltwerbenden Macht des grünen Rasens, des gelben Sandes, des weissen Schnees, der Matte und des Rings über die neuen Menschen. Er hatte bisher den Sport nur als den Drillmeister für eine Handvoll Fussballkönige, Meisterjockeis, Boxerchampions, Tenniscracks, Autorennhelden betrachtet. Nun sah er ihn als