Es geschah in einer Region, in der die Behörden besonders hinterher waren, wenn jemand Kontakte mit Leuten aus dem Westen pflegte. Wir hatten spät abends Freunde besucht. Dazu gehörte auch ein Pastor, der selbst hin und wieder Bibeln in die damalige UdSSR geschmuggelt hatte. Als wir schließlich aufbrachen, bemerkte ich schon nach wenigen 100 Metern, dass ich im Haus etwas vergessen hatte. Also drehten wir um und gingen nochmals zurück. Gerade dieser zweite Besuch fiel den neugierigen Nachbarn auf, und die erstatteten Anzeige. Der Pastor wurde sofort abgeholt und von der rumänischen Staatssicherheit, der Securitate, verhört und misshandelt.
Und alles nur, weil du etwas vergessen hattest. Es war im Grunde deine „Schuld“. Wie bist du – gerade als junger Kerl – mit dieser Situation umgegangen?
Da möchte ich mal ein bisschen ausholen. Die Sache mit Schuld hat ja eine viel größere Dimension. Grundsätzlich bin ich froh, dass ich eine Beziehung zu Gott habe, die von der Vergebung lebt. Ich lebe aus der Vergebung Gottes. Dabei ist es nicht entscheidend, ob ich ganz offensichtlich etwas falsch mache, wie in diesem gravierenden Fall, oder ob ich „unsichtbar“ Mist baue – was mit Sicherheit noch viel häufiger passiert. Wenn Gott mir nicht vergeben würde – wie sollte ich überhaupt damit klar kommen?
In diesem Fall ist es so, dass ich diesen Mann nie wieder gesehen habe. Es war mir auch nicht möglich, einfach irgendwo hin zu gehen und „entschuldige bitte“ zu sagen. Einen Brief konnte ich ihm nicht senden, da das in dieser Region aufgefallen wäre. Westkontakte unerwünscht! Das hätte ihm noch viel mehr Schwierigkeiten einbringen können. Es tat mir damals sehr leid für diesen Mann, der ja schließlich wie ich ein Christ war und damit mein Bruder.
Neben diesen schwierigen und eher bedrückenden Momenten – gibt es denn auch schöne Erlebnisse in Rumänien, an die du dich gerne noch erinnerst? Was fällt dir dabei ein?
Natürlich gab es auch eine Menge schöner Erlebnisse. Ich erinnere mich an die Kinderfreizeiten in Rumänien, zu denen unsere Eltern uns mitnahmen. Ich war selbst damals fast noch ein Kind. Diese christliche Kinderarbeit – wir nannten sie Sonntagsschule – war damals natürlich verboten im Sozialismus. Selbst regelmäßige Kinderstunden waren nicht möglich. Die Gemeindearbeit wurde stark eingeschränkt und kontrolliert. Also fand eben eine Stunde vor oder nach dem Gottesdienst eine Familienstunde statt – Omas, Opas und Eltern alle mit dabei. Die saßen allerdings nur hinten drin und schauten zu. Das genügte aber, um das Ganze als Familiengottesdienst auszugeben, denn der war erlaubt.
Die Leute waren erfinderisch, wenn es darum ging, das Verbotene trotzdem irgendwie möglich zu machen, und meistens fand sich auch ein Weg. Etwa der, dass mein Vater sich entschied, selbst die Kinderfreizeiten zu organisieren. Würde man ihn erwischen, wäre das nicht so tragisch. Also machten wir Zeltfreizeiten, irgendwo weit draußen in der Wildnis, möglichst ab vom Schuss und gut versteckt. In einem Fall war unser Versteck so gut, dass weder wir noch unsere rumänischen Freunde wussten, dass wir mit unseren Zelten in ein militärisches Sperrgebiet geraten waren. Bis zu jener Nacht, in der wir in der Ferne die Kanonenschüsse hören konnten, die quer über unseren Zeltplatz feuerten. Da beteten meine Eltern sehr, sehr kräftig, dass doch bitte keiner wach werden sollte, damit keine Panik entstünde. Das war schon heftig, aber noch nicht alles. Später stellte man fest, dass es auf diesem Gelände auch noch freilaufende Bären gab!
Das hört sich ja ziemlich abenteuerlich an.
Auf jeden Fall, das war natürlich eine spannende Zeit, aber eben auch eine ernste, herausfordernde Zeit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Pastor. Wir wollten etwas besprechen, das nicht jeder mitkriegen sollte. Plötzlich legte der Mann den Finger auf die Lippen, stand auf und schaltete das Radio an; ziemlich laut. Als er meinen verwunderten Gesichtsausdruck sah, erklärte er mir: „Jetzt können wir frei reden. Ich weiß, dass hier jemand ein Mikrofon eingebaut hat und mithört. Ich gebe mir erst gar keine Mühe, das zu finden – sonst ist bald wieder ein neues da. Wenn aber das Radio läuft, kann man nicht herausfiltern, was wir sagen.
Es fällt schwer, sich das heute noch so vorzustellen. Wie alt warst du eigentlich, als diese Reisen begannen?
Ich werde sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als ich das erste Mal mitfuhr. Das war einfach eine Freizeit irgendwo auf einem öffentlichen Zeltplatz, wo es auch andere Touristen gab. Dann kamen entweder die Christen aus den Gemeinden zu uns auf den Zeltplatz oder meine Eltern sind abends mit in Gemeinden gegangen und haben dort ein Grußwort gesagt – predigen durfte mein Vater ja nicht. Da wurde es eben ein sehr langes und sehr biblisches Grußwort.
Rumänien, das war am Anfang für dich eine abenteuerliche Kindheits- und Jugenderfahrung. Doch irgendwann scheint sich bei dir etwas verändert zu haben. Aus dem Zuschauer wurde ein Akteur, jemand, der Verantwortung übernahm. Wie kam es dazu? Was ist da geschehen?
Die Verantwortung leitete sich für mich ab aus den Beziehungen, die gewachsen waren. Ich hatte ja wirklich Freunde gefunden und dachte an diese Freunde natürlich nicht nur während der drei Wochen im Jahr, die ich vielleicht mal dort zu Besuch war. Ihre ganze Situation, ihr Leben, das ging mir nach. Das hat mich verändert.
Wenn ich wieder zu Hause war und hörte, dass in der Gemeinde oder in der Schule einer so leichtfertig über irgendwelche Umstände schimpfte – dieses ganze undankbare und unzufriedene Gemecker, das konnte ich kaum noch ertragen.
Dann kamen bei mir sofort die Bilder von meinen Freunden in Rumänien hoch. Diese Menschen, die so dankbar waren für jede Kleinigkeit, für jedes winzige Stückchen Freiheit. Für sie war es schon ein Freiheitsfenster, jemanden aus Deutschland, dem westlichen, kapitalistischen Ausland, zu kennen, und damit einen Blick nach draußen zu kriegen.
Mir wurde bewusst, wie viel ich ihnen bedeutete. Deshalb habe ich mir gesagt: Ich mach hier weiter, ich engagiere mich in den Spuren meines Vaters. So kam es, dass ich noch viele Fahrten nach Rumänien mitgemacht habe, als Selbstfahrer, aber auch teilweise als Begleiter, weil ich einfach alle Adressen kannte. Auf diese Weise habe ich mich da mit eingebracht.
Als ich dann 18 oder 19 Jahre alt war, hat mein Vater mich – und später auch meine Schwestern – immer wieder, wenn er selbst nicht konnte, auf Reisen geschickt, die wir dann geleitet haben.
Das war eine riesige Freude und es war eine riesige Anstrengung. Eine ziemliche Investition. Du musst ja auch die Zeit dafür finden, Urlaub nehmen, die Kosten selbst aufbringen. Auf der anderen Seite: Was darin an Sinnhaftigkeit steckt, das ist nicht bezahlbar. So habe ich gelernt: Verantwortung beginnt bei mir. Ich selbst muss damit anfangen. Wer Verantwortung übernimmt, profitiert ja selbst davon sehr viel; manchmal glaube ich sogar, man profitiert mehr als alle anderen.
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