Langsam und mit besorgtem Gesichtsausdruck war der Kommissar die fünf Treppen wieder hinaufgegangen, ohne zu bemerken, dass auf jedem Treppenabsatz Mieter standen. Cécile war es, an die er dachte, dieses farblose Mädchen, über das sie sich so lustig gemacht hatten und das manche bei der Kriminalpolizei Maigrets ›Verehrerin‹ nannten.
Hier lebte sie also, in diesem gewöhnlichen Vorstadtwohnhaus, diese dunkle Treppe ging sie jeden Tag hinunter und wieder hinauf; diese Atmosphäre war es, die noch an ihrer Kleidung haftete, wenn sie sich verängstigt und geduldig in den Warteraum am Quai des Orfèvres setzte.
Wenn Maigret sich dazu herabgelassen hatte, sie zu empfangen, hatte er sie dann nicht mit einem Ernst, der nur schlecht seine Ironie verbarg, gefragt:
»Und, sind heute Nacht wieder Dinge verrückt worden? Ist das Tintenfass am anderen Ende des Sekretärs angelangt? Hat der Brieföffner seine Schublade verlassen?«
Im fünften Stock angekommen gab er dem Polizisten die Anweisung, niemanden in die Wohnung zu lassen, stieß die Tür auf, überlegte es sich dann aber anders und untersuchte die Klingel. Es war keine elektrische Klingel, sondern eine dicke rotgelbe Schnur, die herunterhing. Er zog daran. Im Wohnzimmer war ein klösterliches Gebimmel zu hören.
»Achten Sie darauf, dass niemand die Tür anfasst«, wies er den Polizisten an.
Für den Fall, dass Fingerabdrücke darauf zu finden wären. Aber er glaubte selbst nicht daran. Er war in düsterer Stimmung. Das Bild von Cécile ließ ihn nicht los, wie sie im Aquarium saß – denn so nannte man am Quai den Warteraum mit seiner einen verglasten Wand.
Er war zwar kein Arzt, aber es war nicht schwer zu erkennen, dass die alte Dame schon mehrere Stunden tot war, also lange bevor ihre Nichte am Quai des Orfèvres erschienen war.
War Cécile bei dem Verbrechen dabei gewesen? Wenn ja, hatte sie niemanden benachrichtigt, nicht um Hilfe gerufen. Sie war bis zum Morgen mit der Leiche in der Wohnung geblieben und hatte sich dann wie gewöhnlich zurechtgemacht. Er hatte sie sich bei seiner Ankunft am Quai genau genug angesehen, um zu wissen, dass sie normal gekleidet war.
Dieses Detail schien ihm wichtig, und er wollte sich sofort vergewissern. Er suchte ihr Zimmer. Er fand es nicht gleich. Zur Straße hin lagen drei Räume: das Wohnzimmer, das Esszimmer und das Schlafzimmer der Tante.
Auf der rechten Seite des Flurs die Küche und eine Speisekammer. Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite der Küche und entdeckte eine von einem Oberlicht nur schwach erhellte Kammer, in der ein Eisenbett, ein Waschtisch und ein Kleiderschrank standen: Céciles Zimmer.
Das Bett war nicht gemacht. In der Waschschüssel war noch Seifenwasser, und zwischen den Zinken eines Kamms hingen ein paar dunkle Haare. Über einem Stuhl hing ein rosa Flanellmorgenmantel.
Wusste Cécile es schon, als sie sich ankleidete? Es konnte noch nicht hell gewesen sein, als sie auf die Straße trat, oder vielmehr auf die Route Nationale, die vor dem Haus entlangführte, und an der kaum hundert Meter entfernten Haltestelle auf die Straßenbahn wartete. Es hatte dichter Nebel geherrscht.
Bei der Kriminalpolizei hatte sie ihren Anmeldezettel ausgefüllt und sich im Warteraum unter den schwarzen Rahmen gesetzt, in dem die Fotos der im Dienst ums Leben gekommenen Inspektoren hingen.
Endlich war Maigret auf der Treppe erschienen. Sie war aufgesprungen. Gleich würde er sie empfangen, und sie würde ihm alles sagen können …
Aber nein, über eine Stunde ließ er sie warten. Die Flure belebten sich, Inspektoren riefen einander im Vorbeigehen etwas zu, Türen gingen auf und zu. Weitere Personen nahmen im Aquarium Platz, und der Bürodiener rief sie einen nach dem anderen herein. Nur sie allein blieb übrig …
Was hatte sie dazu bewegen können zu gehen?
Mechanisch stopfte Maigret seine Pfeife. Er hörte Stimmen im Treppenhaus. Die Mieter besprachen das Ereignis, und der Polizist forderte sie freundlich dazu auf, wieder in ihre Wohnungen zu gehen.
Was war aus Cécile geworden?
Die ganze Stunde lang, die er allein in der Wohnung verbrachte, ließ ihn dieser Gedanke nicht los und gab seinem Gesicht diesen verschlafenen Ausdruck, den seine Mitarbeiter gut kannten.
Dennoch arbeitete er, auf seine Art. Die Atmosphäre der Wohnung hatte er sich bereits genau eingeprägt. Schon im Vorzimmer, oder besser gesagt in dem dunklen Flur, der als Vorzimmer diente, hing der Geruch von Alter und von Armut. Die winzige Wohnung war mit so vielen Möbeln angefüllt, dass man doppelt so viele Zimmer damit hätte einrichten können, lauter alte Möbel aus den verschiedensten Epochen und in den unterschiedlichsten Stilen, darunter aber kein einziges wertvolles Stück. Er musste an die Versteigerungen auf dem Land denken, wenn nach einem Todesfall oder einem Bankrott der Öffentlichkeit plötzlich der Zutritt zu steifen Bürgerhäusern gewährt wird.
Dabei herrschte keinerlei Unordnung, alles war peinlich sauber, jede noch so kleine Fläche war blank poliert, und selbst der kleinste Krimskrams stand an seinem vorgesehenen Platz.
Es hätte Maigret nicht gewundert, wenn die Wohnung anstelle von Elektrizität mit Kerzenleuchtern, Petroleum- oder Gaslampen beleuchtet worden wäre, so wenig ließ sie sich einer bestimmten Zeit zuordnen, und tatsächlich waren die Lampen alte Petroleumleuchten, die man modernisiert hatte.
Das Wohnzimmer erinnerte an einen Trödelladen. Die Wände waren mit Familienporträts, Aquarellen und wertlosen Stichen in Schwarz und Gold gestrichenen verschnörkelten Holzrahmen bedeckt. Am Fenster thronte ein stattlicher Mahagonisekretär mit ausklappbarer Tischplatte, wie man sie noch manchmal bei Schlossverwaltern sah.
Maigret wickelte sich ein Taschentuch um die Hand und zog ein Schubfach nach dem anderen heraus. Sie enthielten Schlüssel, Siegellackstücke, Pillendöschen, das Gestell einer Lorgnette, zwanzig Jahre alte Kalender und vergilbte Rechnungen. Der Sekretär war nicht aufgebrochen worden. Vier Schubfächer waren leer.
Mehrere Sessel mit abgenutztem Polster, eine kleine Kommode, ein Nähtischchen, zwei Louis-XIV-Standuhren. Schon im Flur hatte Maigret eine solche Uhr gesehen, im Esszimmer fand er eine weitere und war überrascht, fast amüsiert, als er auch noch zwei im Schlafzimmer der Toten entdeckte.
Eine Marotte offenbar. Das Erstaunlichste aber war, dass alle diese Uhren gingen. Maigret merkte es, als um zwölf Uhr mittags eine nach der anderen zu schlagen begann.
Auch das Esszimmer war so mit Möbeln vollgestopft, dass man sich zwischen ihnen kaum bewegen konnte. Wie in den anderen Zimmern hingen dicke Vorhänge vor den Fenstern, als scheuten die Bewohner das Tageslicht.
Warum hatte die alte Frau mitten in der Nacht, als sie vom Tod überrascht worden war, einen Strumpf angehabt? Er suchte den anderen und fand ihn auf dem Bettvorleger. Es waren Strümpfe aus grober schwarzer Wolle. Die Beine der Toten waren geschwollen und blau angelaufen, woraus Maigret schloss, dass Céciles Tante an Wassersucht gelitten hatte. Ein Krückstock, den er vom Fußboden aufhob, bewies ihm, dass sie nicht vollkommen bettlägerig gewesen war, sondern sich in der Wohnung hatte bewegen können.
Über dem Bett hing eine Kordel, die der im Treppenhaus ähnelte. Er zog an ihr, lauschte, hörte, wie die Wohnungstür aufsprang, und ging hinaus, um sie zu schließen, wobei er mit den Mietern schimpfte, die immer noch auf dem Treppenabsatz versammelt waren.
Warum hatte Cécile den Quai des Orfèvres plötzlich verlassen? Was hatte sie zu dieser Entscheidung bewogen, wenn sie doch dem Kommissar etwas so Ernstes mitzuteilen hatte?
Sie allein wusste es. Sie allein konnte es erklären, und je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde Maigret.
Was taten die beiden Frauen nur den ganzen Tag, fragte er sich beim Anblick der vielen Möbel, überladen mit zerbrechlichen Staubfängern: Figuren aus filigranem Glas und aus dünner Fayence, eine abscheulicher als die andere, Glaskugeln, in denen die Grotte von Lourdes oder die Bucht von Neapel zu sehen waren, verwackelte Fotos in Messingrahmen, eine fast durchsichtige