Toby und die anderen schienen die Gefahr zu erkennen, die von ihr ausging. Sie umzingelten die Frau, trieben sie von den Kartons, einer Wand entgegen. Immer wieder sprangen sie zurück, wenn das brennende Holzscheit in ihre Richtung gestoßen wurde, lachten jedoch dabei. Es war ein Spiel, und im Gegensatz zu der Frau hatten sie längst begriffen, wer es gewinnen würde.
»Pass auf, Marie«, rief Toby grinsend. »Ich krieg dich!«
Sie fuhr herum. Vic nutzte die Gelegenheit und schlug ihr mit dem Baseballschläger gegen die Schulter. Mit einem Aufschrei ließ Marie das Holzscheit fallen. Toby stieß es mit dem Fuß beiseite und holte mit seinem Knüppel aus.
»Schluss!«
Die Stimme hallte durch den Bunker. Das Läuten einer Kuhglocke begleitete sie. Nadja sah, wie Krone ins Licht des Feuers trat. Er reckte das Kinn vor und trug den Stab mit der Glocke wie ein Zepter.
»Toby«, sagte er. »Wieso störst du unseren Frieden?«
Die Eindringlinge drehten sich zu ihm um. Rauchschwaden umgaben sie, nahmen Nadja die Sicht auf das, was vor ihr geschah. In ihren Armen begann Talamh zu husten. Das Geräusch riss sie aus ihrer Erstarrung.
»Wir müssen ihnen helfen«, sagte sie.
Robert schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele. Denk an deinen Sohn.«
Er ergriff Nadjas Arm und zog sie in den Gang hinein. Widerwillig folgte sie ihm, wohl wissend, dass er Recht hatte, aber trotzdem voller Schuldgefühle. Sie warf einen letzten Blick hinter sich. Durch die Rauchschwaden sah sie Toby, der den Baseballschläger senkte und langsam auf Krone zuging. Marie erkannte ihre Chance und lief geduckt auf Nadja und die anderen zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten.
»Weshalb ich euren Frieden störe?« Toby spuckte das Wort aus wie einen Fluch. Er blieb vor Krone stehen. Rauch hüllte ihn ein.
»Wir müssen weg, so lange sie abgelenkt sind.« Anne klang ungeduldig.
Nadja drehte sich zögernd um.
»Weil ich es kann«, sagte Toby hinter ihr. Sie hörte ein nasses, klatschendes Geräusch, dann Gelächter.
Marie tauchte neben ihr auf. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt und verzerrt.
»Helft mir!«, stieß sie hervor.
Nadja verdrängte den Gedanken an Krone und ergriff Maries Hand. »Komm.«
Die Dunkelheit nahm sie auf.
2.
Überlebende
Der Donner war ohrenbetäubend.
Rian glaubte, dass ihr Kopf platzen müsse. Der Lärm war so gewaltig, dass er nicht nur ihr Gehör beeinträchtigte, sondern überall in ihrem Körper Echos zu erzeugen schien. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war und ob sie das dem infernalischen Kampf auf dem Idafeld zuzuschreiben hatte, oder ob es nicht bereits an dem Weltentor lag, in das sie gerade recht unsanft hineingeschubst worden war.
Sie hörte ihren Bruder rufen, verstand aber kein Wort. Wieder bebte der Boden unter Rians Füßen, das Donnern der aufbrechenden Erde erschütterte ihr ganzes Sein bis ins tiefste Innere.
Ragnarök, schoss es ihr durch den Kopf. Die Welt geht unter.
Nichts wird mehr so sein, wie es war.
Doch bevor sie um die Welt trauern konnte, die gerade zerbrach, wurde Rian auf einmal am Arm gepackt und mitgezerrt, gleichzeitig erhielt sie erneut einen Stoß von hinten. Die Hitze eines Vulkanausbruchs fegte über sie hinweg.
Das Feuer, das alles verschlingt! Nadja! Das Kind! Die anderen! Sie wusste kaum, wie ihr geschah, sie fühlte nur, dass jemand sie festhielt und nicht loslassen wollte. Sie wurde mitgerissen, wirbelte herum und versuchte, das, was sie hielt, zu umklammern. Das vertraute Rauschen eines Portals umgab sie, in das sie immer tiefer hineingezogen wurde und das sie mit sich fortriss. Die Sekundenbruchteile, in denen sie durch diesen Tornado wirbelte, dehnten sich zu einer Ewigkeit, doch schließlich ließ der Schwindel nach und sie fiel.
… und fiel.
*
»Au!« Rhiannon, Prinzessin der Sidhe Crain, tat die gesamte rechte Seite weh, einschließlich der Schläfe. Außerdem war es kalt.
Sie war unsanft zu Boden gestürzt. Einem harten, mit kurzem Gras bewachsenen Boden, soweit sie ertasten konnte. Immerhin schien sie noch zu leben. War sie bewusstlos gewesen? Wahrscheinlich. Sie erinnerte sich an einen schier endlosen Fall, totale Dunkelheit und eine ebenso vollständige Orientierungslosigkeit, bevor alles wie ausgelöscht war.
Sie blieb ruhig liegen und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Der Kampf! Das Heulen des Fenriswolfs. Schmerz, Schreie, Nadja, ihr Kind Talamh, Pirx, Grog, ihr Vater … und all die anderen. Wie war der Kampf wohl ausgegangen?
Warum war sie überhaupt durch das Tor … oh. Richtig. Der Getreue. Er hatte David und sie durch ein Portal gestoßen, um … sie in Sicherheit zu bringen? Warum? Bisher hatte er versucht, Rian und ihren Bruder entweder zu töten oder zu fangen. Woher kam auf einmal dieser Wandel?
Die Welt ist wohl nicht untergegangen, dachte Rian. Denn ich lebe noch. Aber wo bin ich?
Sie musste zu sich kommen, die Benommenheit abschütteln. Die Schmerzen machten ihr bewusst, dass sie nicht auf feinen Linnen gebettet lag und von Dienern versorgt wurde. Wo auch immer der Getreue sie hingeschickt hatte – die Heimat war es nicht.
Die Lider gehorchten ihr noch nicht, waren zu schwer. Sie stöhnte und versuchte, sich mit geschlossenen Augen zu orientieren. Der Boden war hart und eben, wie bereits festgestellt, drückte auf ihren Hüftknochen. Ihre Finger griffen in trockene Grasbüschel. Die Geräusche um sich herum konnte sie nicht richtig wahrnehmen, in ihren Ohren lag immer noch ein Nachhall, ein Rauschen und Summen dessen, was sie hinter sich gelassen hatte.
Sie sog die Luft tief durch die Nase ein. Es roch frisch und ein wenig salzig, als wäre ein Meer in der Nähe. Daher das Brausen in ihren Ohren! In regelmäßigen Rhythmen klatschten Wellen an den Strand, nicht allzu weit entfernt.
Ihre Lider zuckten, und blinzelnd konnte sie sie jetzt langsam öffnen. Sie richtete sich ein wenig auf und sah sich verschwommen um.
Wie erwartet, befand sie sich nicht in der Anderswelt – derart klare, sonnige Tage gab es nur im Reich der Menschen. Wenn sie aufstand, würde sie vermutlich den Boden unter den Füßen verlieren und einen knappen Zentimeter darüber schweben. Das war eine der seltsamen magischen Sachen, die nicht erklärt werden konnten.
Rian staunte. Ein nicht endenwollender, weißer Strand lag nicht weit entfernt von ihr, bis zum Horizont erstreckte sich ein blaues Meer, das in größeren und kleineren Wellen heranbrandete. Ein blauer, weiß durchsetzter Himmel, an dem hoch eine strahlende Sonne stand. In der Ferne waren Möwen zu hören, ihre sonst schrillen, klagenden Laute klangen noch ein wenig dumpf. Rians Gehör würde eine Weile brauchen, bis es sich endgültig erholt hatte.
Sie versuchte aufzustehen. Doch kaum war sie halb hochgekommen, gaben ihre Beine wieder unter ihr nach. Mist. Offenbar hatte sie sich den linken Knöchel verstaucht, und das rechte Knie hatte eine Prellung davongetragen.
Wütend saß Rian wieder auf dem grasig-sandigen Boden. Das kurze Gras sah aus, als sei es von Tieren abgeweidet worden. Kühe? Pferde? Lebten Menschen in der Nähe?
Rian unternahm einen neuen Versuch, sich hochzurappeln. Vorsichtig. Diesmal gelang es, sie stand, wenn auch etwas wacklig, auf beiden Beinen und stakste wie ein Storch im Salat ein paar Schritte auf eine kleinere Erhebung zu, die einen besseren Überblick über die Landschaft versprach. Sie musste wissen, wo sie war.
Es fiel ihr schwer, den sandigen Hügel hinaufzukommen, der linke Knöchel schmerzte und das rechte Knie ließ sich kaum anwinkeln. Der Arm war durch den Sturz ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden, er war aufgeschürft