"Ohne Zweifel, ohne Zweifel", sprach der Doktor. "Wo ist er? Führen Sie mich zu ihm. Wenn ich herunterkomme, spreche ich bei Ihnen nochmals vor, Frau Maylie. Das ist also das kleine Fenster, durch das er hereinkam? Das hätte ich kaum für möglich gehalten!"
Plaudernd folgte er Herrn Giles die Treppe hinauf. Inzwischen erlaube ich mir dem Leser mitzuteilen, daß Herr Losberne ein im Umkreise von zehn Meilen als "Der Doktor" bekannter Wundarzt war, der seine Beleibtheit mehr seinem heiteren Gemüt als einem üppigen Leben verdankte. Er war ein gemütlicher und biederer, aber etwas wunderlicher alter Junggeselle, wie man ihn in einem fünfmal größeren Umkreise kaum wiederfindet.
Der Doktor blieb länger fort, als die Damen dachten. Es wurde ein flacher Kasten aus dem Wagen geholt, ziemlich oft geklingelt, und die Dienstboten liefen ununterbrochen die Treppen hinauf und hinunter; lauter Zeichen, aus denen man schließen konnte, daß oben etwas Wichtiges vorgehen müsse. Endlich kam er zurück, machte ein geheimnisvolles Gesicht und schloß die Tür behutsam hinter sich.
"Das ist etwas ganz Außerordentliches, Frau Maylie", begann der Doktor und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als ob er verhindern wolle, daß jemand hereinkäme.
"Hoffentlich ist die Verwundung nicht gefährlich?" fragte die alte Dame.
"Nun, das wäre den Umständen nach nichts Außergewöhnliches", erwiderte der Doktor, "obgleich ich nicht glaube, daß es der Fall ist. Haben Sie den Dieb gesehen?"
"Nein", sagte die alte Dame.
"Auch nichts über ihn gehört?"
"Nein."
"Verzeihung, gnädige Frau", fiel Giles ein, "ich wollte gerade von ihm erzählen, als Herr Doktor kam."
Die Sache verhielt sich eigentlich so, daß Herr Giles es nicht hatte über sich gewinnen können, einzugestehen, das Opfer seines Schusses sei bloß ein Kind gewesen. Da er im Augenblick noch auf dem Gipfel seines Ruhmes stand und um seiner Heldentat willen von allen Seiten mit Lobsprüchen überhäuft wurde, so hätte es ihm schier das Herz gebrochen, wenn er nicht die Aufklärung, die aller seiner Herrlichkeit ein Ende machen mußte, um einige köstliche Minuten hätte hinausschieben können.
"Rosa wünschte den Menschen zu sehen", sagte Frau Maylie, "ich habe es aber nicht zugegeben!"
"Hm", meinte der Doktor, "es ist nichts besonders Abschreckendes in seinem Äußern. Haben Sie etwas gegen einen Besuch in meiner Anwesenheit?"
"Wenn es nötig ist, gewiß nicht", erwiderte die alte Dame.
"Dann möchte ich darum bitten", sagte der Doktor, Jedenfalls bin ich überzeugt, daß Sie es später bereuen würden, wenn Sie es unterlassen hätten. Er ist vollkommen ruhig und gut versorgt. Darf ich bitten, Fräulein Rosa? – Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Ehrenwort!"
Dreißigstes Kapitel
Was die beiden Damen und Doktor Losberne von Oliver dachten
Unter vielen geschwätzigen Versicherungen, daß sie der Anblick des Verbrechers angenehm überraschen werde, bot der Doktor Fräulein Rosa den Arm, reichte Frau Maylie die andere Hand -und führte die Damen mit etwas altfränkischer Galanterie die Treppe hinauf.
"Nun", sagte der Doktor leise, als er sachte auf die Klinke der Tür drückte, "ich bin gespannt zu hören, was Sie von ihm halten. Er ist zwar unrasiert, sieht aber trotzdem nicht wie ein Räuber aus. Einen Augenblick – ich will erst nochmal nachsehen, ob er in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen!"
Er ging zuerst ins Zimmer, sah sich darin um, winkte dann seinen Begleiterinnen hereinzukommen, schloß die Tür und schob langsam die Bettgardine zurück. Man sah im Bett statt eines wüst aussehenden Verbrechers, wie man erwartete, ein Kind, das vor Schmerz und Erschöpfung in tiefen Schlaf versunken war. Der verwundete Arm lag verbunden auf seiner Brust, während der Kopf auf dem anderen ruhte, der durch Olivers lang hinabwallendes Haar fast verdeckt wurde.
Der wackere Doktor hielt die Gardine in der Hand und sah den Kleinen schweigend an. Inzwischen trat die junge Dame näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette. Sie strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht, und als sie sich über ihn beugte, fielen einige Tränen auf seine Stirn.
Oliver regte sich und lächelte im Schlaf, als ob dieses Zeichen von Mitleid und Erbarmen irgendeinen süßen Traum von nie gekannter Liebe in ihm hervorriefe.
"Was bedeutet das nur?" rief die alte Dame. "Dieser arme Junge kann doch nie und nimmer ein Spitzbube sein."
"Das Laster", seufzte der Arzt und zog die Gardine wieder zu, "schlägt seinen Wohnsitz in gar vielen Tempeln auf, und wer kann sagen, ob es sich nicht auch hinter einer schönen Außenseite versteckt."
"Aber doch nicht in so früher Jugend?" meinte Rosa.
"Mein liebes Fräulein", entgegnete der Doktor, traurig den Kopf schüttelnd, "das Laster ähnelt dem Tode und beschränkt sich nicht allein auf die Alten und Abgelebten, es sucht sich nur zu oft unter den Jüngsten und Schönsten seine Opfer."
"Ach können Sie wirklich glauben, daß dieser zarte Knabe sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit angeschlossen hat?" fragte Rosa.
Der Doktor bewegte den Kopf in einer Weise, die anzudeuten schien, daß er es für möglich halte; dann führte er die Damen mit der Bemerkung, der Kranke könnte gestört werden, in ein anstoßendes Zimmer.
"Aber selbst, wenn er verbrecherisch gewesen wäre", fuhr Rosa fort, "bedenken Sie, wie jung er ist. Vielleicht hat er nie Mutterliebe, vielleicht nie ein Heim gekannt und ist durch schlechte Behandlung, Prügel oder Hunger an Menschen geraten, die ihn zu Verbrechen zwangen. Tante, liebste Tante, bedenken Sie das, ehe Sie das kranke Kind ins Gefängnis schleppen lassen, das jedenfalls das Grab für jede Möglichkeit einer Besserung werden muß. Haben Sie daher Mitleid mit ihm, ehe es zu spät ist!"
"Liebes Kind", sagte die alte Dame und drückte das weinende Mädchen an ihre Brust, "glaubst du, ich werde dem .Knaben ein Haar krümmen lassen?"
"O nein, sicher nicht", versetzte Rosa lebhaft.
"Meine Tage sind gezählt", fuhr die alte Dame fort, "und der HErr wird mir gnädig und barmherzig sein, wie ich auch mit anderen Erbarmen habe! Was kann ich zur Errettung des Knaben tun, Herr Doktor?"
"Ich will darüber nachdenken, gnädige Frau. Muß mal überlegen."
Herr Losberne steckte die Hände in die Tasche und ging einigemal im Zimmer auf und ab. Er zog die Stirn in ernste Falten und murmelte vor sich hin: "ich hab's" und dann auch wieder: "nein, so geht's nicht". Endlich blieb er stehen und hob an:
"Wenn Sie mir unbeschränkte Vollmacht geben Giles und Brittles, den großen Jungen, ins Bockshorn zu jagen, glaube ich, läßt's sich machen. Sie können es ihnen ja wiedergutmachen. Nicht wahr, Sie haben nichts einzuwenden?"
"Nein, vorausgesetzt, daß es kein anderes Mittel zur Rettung des Kindes gibt", erwiderte Frau Maylie.
"Es gibt kein anderes, mein Wort darauf."
"Dann gibt Ihnen Tante unbeschränkte Vollmacht", sagte Rosa unter Tränen lächelnd. "Aber gehen Sie nicht härter mit den beiden um, als unumgänglich nötig ist."
"Sie scheinen zu glauben", entgegnete der Doktor, "daß alle Welt heute hartherzig ist, Sie selbst ausgenommen, Fräulein Rosa. Ich will nur hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitgefühl in Anspruch nimmt, Sie in einer ebenso weichherzigen Stimmung treffen möge; und ich möchte wünschen, selbst ein junger Bursche zu sein, um von der günstigen Gelegenheit Nutzen ziehen zu können."
"Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser Brittles", versetzte Rosa rotwerdend.
"Nun", sagte der Doktor mit herzlichem Lachen, "dazu gehört nicht viel; aber um auf unsern