Betroffen durch die Entschiedenheit in ihrem Benehmen, blickte ihr Oliver verwundert ins Gesicht. Sie schien es aufrichtig zu meinen, sie war blaß und aufgeregt und zitterte stark.
"Ich habe dich schon einmal vor Mißhandlungen geschützt und werde es auch künftig tun, – ich tue es sogar jetzt", fuhr das Mädchen lauter fort, "denn wenn jemand anders dich geholt hätte, wäre man weit gröber mit dir umgegangen. Ich habe mich für dich verbürgt, daß du ruhig und artig sein würdest. Wenn du mir Schande machst, so wirst du mir und dir schaden, vielleicht an meinem Tode schuld sein. Sieh her! das alles habe ich schon für dich erduldet! So wahr, als Gott sieht, daß ich es dir zeige." Sie wies ihm einige blaue Flecken an Hals und Armen vor und fuhr dann hastig fort: "Vergiß das nicht und laß mich deinetwegen nicht noch mehr ausstehen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es gern tun, aber es steht nicht in meiner Macht. Sie wollen dir kein Leid zufügen, und wozu man dich auch immer zwingen mag – dich trifft keine Schuld. Gib mir die Hand. Schnell, deine Hand!"
Sie ergriff Olivers Hand, die er ihr unwillkürlich reichte, blies das Licht aus und zog ihn die Treppe hinunter. Die Tür wurde von jemand, den man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, geöffnet und, sobald sie auf der Straße waren, ebenso schnell wieder geschlossen. Vor dem Hause hielt eine Droschke, sie zog ihn hinein und schloß die Fenster. Der Kutscher bedurfte keiner Weisung, sondern fuhr sofort in scharfem Trabe fort.
Nancy hielt Oliver noch immer fest an der Hand und flüsterte ihm weiterhin Warnungen und Versprechungen ins Ohr. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß er sich kaum besinnen konnte, wo er wäre und wie er hierher käme. Da hielt auch schon die Droschke vor dem Hause, in dem Sikes wohnte.
Oliver warf einen schnellen Blick auf die leere Straße und ein Ruf um Hilfe schwebte ihm auf den Lippen. Nancys bittende Stimme, sie zu schonen, tönte ihm im Ohr. Er zögerte, und damit war die günstige Gelegenheit verpaßt; er befand sich plötzlich im Hause, das sofort verriegelt wurde.
"Wir sind da", sagte das Mädchen, zum erstenmal seine Hand loslassend. – "Bill!"
"Hallo", antwortete dieser, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. "Ihr kommt zur rechten Zeit! Nur herein!"
Das war für einen Menschen von Sikes' Temperament eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, und Nancy war darüber augenscheinlich sehr vergnügt.
"Tom hat den Hund mitgenommen", bemerkte Sikes, während er leuchtete, "er wäre uns im Wege gewesen."
"Das ist gut", erwiderte Nancy.
"Du hast also den Bengel", sagte Bill, die Tür schließend, nachdem sie ins Zimmer getreten waren.
"Ja, hier ist er", antwortete Nancy.
"Ging er ruhig mit?" fragte Sikes.
"Wie ein Lamm"; entgegnete das Mädchen.
"Freut mich zu hören", sagte Sikes, Oliver drohend anblickend, "es wäre ihm sonst auch schlecht ergangen. Komm her, Junge, ich muß dir eine Vorlesung halten, je eher, desto besser!"
Mit diesen Worten riß Sikes seinem neuen Zögling die Mütze vom Kopfe und warf sie in eine Ecke. Dann setzte er sich an den Tisch und rief Oliver zu sich heran.
"Weißt du, was das ist?" fragte Sikes, eine Pistole ergreifend, die auf dem Tische lag.
Oliver bejahte.
"Nun denn, guck her! Dies ist Pulver, dies eine Kugel und dies ein Pfropfen."
Oliver flüsterte, daß er das alles begreife.
Nun lud Herr Sikes die Pistole mit großer Umständlichkeit und sagte dann:
"So, jetzt ist sie geladen."
"Ja, ich sehe es", sprach Oliver, am ganzen Leibe zitternd.
"Nun", fuhr der Räuber fort und setzte den Lauf der Pistole an Olivers Schläfe. Dieser konnte einen Angstschrei nicht unterdrücken. "Wenn du auf der Straße das Maul auftust, ohne gefragt zu sein, kriegst du die Kugel in den Hirnkasten. Hast du dir also vorgenommen, ohne Erlaubnis zu reden, so sprich erst vorher dein letztes Gebet. Soviel ich weiß, wird sich keiner viel nach dir erkundigen, wenn du in dieser Weise erledigt bist. Wenn ich mir die Mühe machte, dir dies auseinanderzusetzen, so geschah es nur zu deinem eigenen Besten. Hast du mich verstanden?"
"Du willst mit kurzen Worten sagen, Bill", nahm jetzt Nancy das Wort und sah dabei Oliver bedeutungsvoll an, "daß du ihm durch eine Kugel in den Kopf das Ausplaudern verleiden willst, falls er dir einen schlimmen Streich spielt. Selbst auf die Gefahr hin, dafür gehängt zu werden. Eine Gefahr, die du ja täglich wegen vieler anderer Dinge in deinem Berufsleben auf dich nimmst.'
"Ganz recht", bemerkte Sikes beifällig. "Die Weiber können doch immer alles in die kürzesten Worte fassen, ausgenommen, wenn sie zanken, denn da können sie kein Ende finden. Und nun, da er Bescheid weiß, kannst du uns etwas zu essen geben. Nachher wollen wir noch ein bißchen pennen, ehe wir aufbrechen."
Dieser Aufforderung nachkommend, deckte Nancy schnell den Tisch und holte eine Schüssel Hammelfleisch und einen Krug Bier aus der Küche. Als das Abendessen beendet war, goß Herr Sikes noch ein paar Gläser Brandy hinter die Binde und befahl Nancy, ihn Punkt fünf Uhr zu wecken. Dann warf er sich auf sein Lager. Oliver legte sich, dem Befehle seines neuen Herrn gehorchend, ohne sich auszuziehen, auf eine Matratze neben Sikes' Bett. Nancy blieb vor dem Kamin sitzend, wach, um die beiden zur bestimmten Zeit zu wecken.
Oliver glaubte, das Mädchen würde ihm vielleicht noch einige Ratschläge zuflüstern, sie rührte sich aber nicht. So schlief er endlich ein.
Als er erwachte, stand eine Teekanne auf dem Tisch, und Nancy war eifrig mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt. Sikes war dabei, verschiedene Sachen in die Taschen seines über einer Stuhllehnie hängenden Mantels zu stecken. Der Tag war noch nicht angebrochen; die Kerze brannte noch; draußen war dunkle Nacht. Ein starker Regen schlug gegen die Fensterscheiben., und der Himmel sah schwarz und wolkig.aus.
"Nun", brummte Sikes, als Oliver aufsprang, "bereits halb sechs! spute dich oder du kriegst kein Frühstück mehr. Es ist schon spät."
Nachdem der Junge ein wenig gefrühstückt hatte, band ihm Nancy ein Halstuch um, und Sikes hing ihm einen großen, groben Mantelkragen über die Schultern. Sikes ergiff ihn nun bei der Hand und zeigte ihm mit drohender Gebärde, daß die Pistole in einer Seitentasche seines Mantels stecke. Nachdem er sich kurz von Nancy verabschiedet hatte, zog er Oliver mit sich fort.
Dieser wandte sich an der Tür einen Augenblick um, in der Hoffnung, von dem Mädchen noch einen Blick zu erhaschen, doch Nancy hatte ihren Platz vor dem Kamin wieder eingenommen und rührte sich nicht.
Einundzwanzigstes Kapitel
Unterwegs
Der Morgen war unfreundlich, als sie auf die Straße traten. Es regnete in Strömen und düstere Wolken bedeckten den Himmel. Auf den Straßen standen große Pfützen, und die Rinnsteine flossen über. Alles schien in diesem Stadtteil noch in den Federn zu sein, denn die Fensterläden waren überall fest geschlossen und die Straßen öde und leer.
Als sie in die Bethnal Greenstraße gelangten, schien der Tag erst wirklich anzubrechen. Die Wirtshäuser, in denen die Gaslampen noch brannten, waren bereits geöffnet. Allmählich machten auch die anderen Läden auf, und hin und wieder begegnete man Menschen. Je näher sie der City kamen, desto mehr nahm der Lärm und das Geschäftsgewühl zu. Es war nun so hell, wie es an einem solchen trüben Tage sein konnte. Sie kamen nach länger Wanderung nach Holborn.
"Junge", sagte Sikes mit einem Blick auf die Uhr der Andreaskirche, "beinahe sieben Uhr. Du mußt schneller ausschreiten, Faulpelz." Er riß ihn mit sich fort. Auf der Straße nach Kensington holten sie einen leeren Karren ein, und Sikes fragte den Kutscher mit so viel Höflichkeit, als