"Und zu welchen gehört Oliver?"
"Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel."
"Nun, derartige Eigenschaften besitzt Ofiver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn."
"Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere", entgegnete Herr Grimwig.
Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.
"Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich", wiederholte Hee Grimwig. "Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen."
Im Innern seines Herzens mußte Herr Grimwig aber zugeben, daß Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, daß er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig boshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – - usw.
Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so daß selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.
"Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?" fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.
"Morgen früh", entgegnete Herr Brownlow. "Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!"
"Ja, Herr Brownlow", sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.
"Ich will Ihnen etwas sagen", flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, "er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!"
"Ich möchte drauf schwören, daß dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.
,;Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -", damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.
"Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen", sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.
"Und ich meinen Kopf auf seine Tücke", schrie Herr Grimwig.
"Nun, wir werden ja sehen", sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.
"Allerdings, wir werden es sehen", sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.
Das Schicksal wollte es, daß in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte:
"Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muß noch etwas mitnehmen."
"Er ist bereits fort", versetzte Frau Bedwin.
"Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben."
Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.
"Schicken Sie doch Oliver damit hin", sagte Grimwig mit ironischem Lächeln. "Sie wissen, er wird sie sicher abliefern."
"Ja, lassen Sie sie mich hintragen", sagte Oliver. "Ich renne schnell hin."
Der alte Herr wollte gerade erklären, daß Oliver auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimwigs ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohnes einsehen lernen.
"Du kannst gehen, Oliver. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!"
Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.
"Sage also dem Buchhändler", sprach Brownlow und sah dabei Grimwig scharf an, "du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. – -Hier ist eine Fünfpfundnote; er wird dir zehn Schillinge herausgeben."
"In zehn Minuten bin ich wieder zurück", sagte Oliver lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Bedwin folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler. "Gott sei mit dir", murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, daß ich ihn aus den Augen lassen soll."
In diesem Augenblick sah sich Oliver um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Bedwin erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.
"Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein", sagte Herr Brownlow und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte. "Inzwischen wird es dunkel geworden sein."
"Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?" fragte Grimwig ironisch.
"Sie nicht?" fragte Brownlow lächelnd zurück.
"Nein", sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. "Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen."
Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. – -
Es wurde so dunkel, daß man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da – und warteten.
Fünfzehntes Kapitel
Zeigt, wie lieb der alte Jude und Fräulein Nancy Oliver Twist hatten
In einer armseligen Kneipe einer finsteren Straße in der Gegend von Little Saffron Hill, saß über einer kleinen Kanne und einem Schnapsglase brütend Herr William Sikes. Zu seinen Füßen lag ein weißer, rotäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.
"Ruhig, Biest!" rief plötzlich Herr Sikes und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biß ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Sikes Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang,schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoß sofort hinaus und ließ Herrn Sikes allein.
Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das