Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Maria Rilke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027211104
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zum Trotz hätte geschehen müssen, so daß Rosinchen aus Grönland mit Klothildchen aus irgend einem tropischen ultima Thule zusammenkommen mußte; ob dies dann auf jeden Fall Karbach zum Schauplatz haben mußte, kann selbst der gar kluge Leser nicht entscheiden.

      Wenn aber einer von den Wenigen den Leser hinter den roten Geranien einführen könnte, würde zwar auch er den Eindruck hellster Eintracht aus dem alten Urväterhausrat mitnehmen, aber sich gestehen, daß da doch noch ein Rest sei, etwas Unaufgelöstes, das trotz des fleißigen Staubtuchs Klothildens wie ein Schleier über den Mahagonischränken und dem Nußbaumtisch dämmert. Und dieser Schleier eben ist es, an dem ganz Karbach zieht wie an einem Sprungtuch, wartend, welches Gerücht aus der brennenden Neugierde in das Linnen springen mag.

      Es springen viele.

      Aber der Schleier ist unzerreißbar.

      Und das ist es. Was? Eben das, warum die Karbacher nicht mehr Rosine ohne Klothilde sagen können und umgekehrt.

      Ein Geheimnis.

      Und wo nistet dieses schwarze Insekt, dieser ewig pochende Wurm, unter den schwarzen oder unter den weißen Haaren? Bei Rosinchen war es nicht lang geblieben. Wenn sie irgendwem mit der feierlichsten Miene »Schweigen übers Grab« versprach (und sie tat das oft, denn es hatte etwas Romantisches und erinnerte sie an die Bücher mit den bunten Umschlägen, die sie als Mädchen heimlich gelesen hatte) wenn sie also dieses betonte, romantische Schweigen versprach, so konnte man sicher sein, daß sie die Tatsache bloß um eine halbe Stunde früher erzählte, als sie es ohne die große Festlichkeit getan hätte.

      Klothilde und Rosine waren als Kinder befreundet gewesen. In den jungen Mädchenjahren hatte sie das Pensionsleben von einander getrennt, andere Zufälle hatten diese Trennung so lange ausgedehnt, bis sie sich endlich in jenen ersten Stadien des altjüngferlichen Pessimismus in der Residenz wiederfanden. Sie fanden sich wie zwei, die auf einer einsamen Heidestation beide den Anschluß versäumt haben und denen nun die Pflicht obliegt, sich gegenseitig durch die Langeweile des Wartens durchzurudern. Es kommt auch vor, daß zwei solche Menschen warten und warten und endlich, weil kein Zug mehr kommen will, von dem vergessenen Bahnhof den Weg ins nächste Dorf finden und dort wohnen bleiben.

      Und in einem ganz besonderen Fall nennt man das Dorf Karbach.

      Sie freuten sich ursprünglich sehr des Wiedersehens, aber der Gedanke eines Beisammenbleibens war ihnen ferner als der Mars. Rosinchen wußte vor lauter ›Geheimnissen‹ gar nicht, was sie zuerst erzählen sollte, und war nicht wenig stolz, daß in ihren Erlebnissen ein ›Er‹ vorkommen durfte, dunkel und mystisch, immer namenlos, wie der Fliegende Holländer, nicht gerade als Hauptperson, aber doch als wichtiges Versatzstück; und daß sie ihn da und dort anbrachte, zeugte für ihren dekorativen Sinn. Freilich machte sie’s so, wie die Spießbürgerfamilie, die einen einzigen silbernen Aufsatz besitzt, den sie einem eventuellen Gast aus einer Stube in die andere nachträgt, um so die Vorstellung eines märchenhaften Reichtums zu erwecken. Der Aufsatz ist immer überall. Und einmal ist Zucker drin, einmal Blumen, einmal Früchte, und im äußersten Fall paßt er auch für Visitenkarten.

      Klothilde hörte mit vielem Verständnis und mit einem seltenen Reichtum an Geduld die Geheimnisse Rosinchens an und versäumte endlich auch nicht, das große Martyrtum zu bewundern, das jene so heldenhaft ertrug, und zu würdigen, daß trotz der Treulosigkeit des anderen Geschlechts nicht nur Verachtung gegen dessen Übeltaten in ihrer Brust wohnte. Rosinchen konnte nämlich immer noch, wenn sie von den ›Männern‹ sprach, einen Rest von mädchenhafter Scheu in ihre Stimme legen, und sie setzte dann wohl auch die Backfischaugen auf, die ihr indessen wie eine zu schwach gewordene Brille standen und ihr ziemlich wehe zu tun schienen. Die große Gloriole des unverdienten Leidens machte alle diese Uneinigkeiten vergessen; denn Rosine war in tiefster Seele überzeugt, daß ihr ganzes Unglück im Namen liege. Es giebt Menschen, denen die Eltern in der Wiege einen Namen geben, der schon wie aus dem Konversationslexikon klingt, diese Menschen müssen berühmt werden auf jeden Fall. Wenn sie als Kinder den Hals brechen, werden sie’s eben deswegen. Und ihre unseligen, verblendeten Eltern hatten ihr an dem Unglückstage einen Namen gegeben, mit dem sie alte Jungfer hatte werden müssen, und hätte sie die Schönheit einer indischen Königin mit der Grazie der Otéro vereinen dürfen. Als Hauptperson dieser gräßlichen Schicksalstragödie fühlte sie sich natürlich ebenso wichtig wie bedauernswert. Trotzdem blieb ihr Zeit, die Teilnahme zu beobachten, welche Klothilde für sie hegte. Und wenn zuerst einzig die Freude an deren Herzlichkeit sie bezwang, kam schon in jenen ersten Tagen des Wiedersehens der schlaue, schleichende Verdacht hinzu, daß so tiefes Mitempfinden nur bezeugen könne, wer selbst Ähnliches erlebt und erlitten hatte.

      So ein Verdacht ist wie die fliegende Gicht. Einmal zuckts da, einmal dort. Man glaubts endlich überwunden, und schon beginnts wieder an einer anderen Stelle. Rosinchen konnte nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte keine Verdauung mehr und vergaß manchen Abend die Locken einzudrehen. Sie erwog alle Möglichkeiten, und das Ende war immer: daß Klothilde gewiß weit hinter ihr stünde in allem. Aber es wäre immerhin möglich gewesen, daß sie ein Geheimnis erlebte, bei dem einen großen Vorzug, den sie unleugbar besaß: sie hieß nicht Rosine.

      Und als Tage um Tage ins Land gingen und Klothilde immer mehr davon sprach, nach Karbach zu ziehen, überfiel Rosine eine unbeschreibliche Angst, daß das große Geheimnis ihr nun ewig verschlossen bleiben würde. Denn daß ein solches bestünde, wußte sie nun. Sie wußte, daß Klothilde in ihrem Schrank eine wohlversperrte Kassette bewahre, die sie die ›Wertheimer‹ nannte. Sie lachte bitter. Die ›Wertheimer‹. So heuchlerisch, damit man glaubt, da seien Wertpapiere drin. Freilich Briefe werdens sein oder gar ein Bild sein Bild.

      Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie wurde immer vertrauensseliger; denn sie sagte sich: Vertrauen macht Vertrauen, und einmal in der Dämmerstunde würde Klothilde gewiß die ›Wertheimer‹ holen. Aber die Zeit der Übersiedlung Klothildens rückte näher, und Rosinchen hatte schon ihre ganze Phantasie in lauter Vertrauen ausgegeben und war arm und hilflos wie ein Kind.

      Da kam ihr in einer ganz schlaflosen Nacht der Entschluß: Wir müssen beisammenbleiben. Und sie baute daran weiter: Wenn man so Tag um Tag neben einander lebt, mit einander lebt, mittags denselben Wein trinkt, dasselbe Salz ißt, denselben Hunger hat und sich in der Nacht gegenseitig im Schnarchen stört, muß doch aus zwei Menschen wenn auch nicht Eines, so doch ein symmetrisches Ganzes werden, dessen Hälften sich ohne Rest decken können.

      Rosinchen verkannte schon damals nicht die Schwierigkeiten eines solchen Nebeneinanderseins. Sie kannte die Strenge und Genauigkeit Klothildens, ihren zielbewußten Eifer, und verhehlte sich nicht, daß sie und ihre Neigungen manchen Kampf dagegen werden wagen müssen. Sie wußte in solchen klaren Augenblicken, daß sie sich oft auf müßigen Träumen ertappte, daß immer noch der Fliegende Holländer der König dieser Träume war, und daß sie den ganzen Tag im Hause sich die Füße wund und müde lief, ohne eigentlich was zu leisten, als ein paar Stühle von ihrem Platz zu rücken und ein paar Kleinigkeiten von der Kommode zu werfen. Aber sie tröstete sich damit, daß es ja, wenn sie erstmal beisammen wären, bis zur Enthüllung nicht mehr weitab sein könne, und daß sie nach längstens einem Jahr Abschied nehmen und beim Abschied noch einen Blick des Sieges in die weitgeöffnete ›Wertheimer‹ und einen Blick des Bedauerns auf die arme Klothilde werfen würde, die auch kein Geheimnis bewahren konnte. In Gedanken warf sie schon lange diese beiden Blicke. Und sie gewann eine Übung darin, welche der erträumten Szene ihre einstmalige dekorative Wirkung sicherte.

      Etwas zaghaft und mit dem bösen Gewissen in den gezwungen lächelnden Augen trug sie Klothilde den Plan vor. Die war weder erstaunt noch zögerte sie. Sie sagte einfach: »Ja, wenn du willst.« Sie hatte sie kaum angesehen dabei. Rosine aber schien es, als ob die Freundin hohngelächelt habe. Und ihr Plan wurde nur um so sicherer, denn sie wollte nun auch für dieses Hohnlächeln ihre Rache.

      Der Tag der Übersiedlung war da; Klothilde lief seit Morgengrauen aus einer Stube in die andere, erteilte den Leuten in ehernem Ton ihre Befehle, griff, wo es sein mußte, mit an, und Rosinchen glaubte mitzutun. Sie gebärdete sich wie ein Kind, dem der Strom das Schiff treibt, und das dennoch glaubt, mit eigenen Rudern vorwärts zu kommen. Wiederholt stieß sie in ihrer ziellosen Hast im Flur oder auf der Treppe