Dieser Knabe Hakan wohnte auf einem großen Bauernhof jenseits des Baches, der sich durch unser Dorf schlängelt und neben unserem Häuschen ins Meer mündet. Das wußte ich sicher, aber ich kannte ihn nicht und hatte keine Ahnung, daß er ein Pony besaß. Das mußte untersucht werden! Nach dem Tee rannte ich in mein Zimmer, sprang in meine alten, blaßblauen Jeans, zog ein gelbes Sporthemd über – es war noch ganz neu – und verschwand über den Küchenweg ins Freie, eine Faust voll mit Zuckerstücken, in einer Hosentasche eine Mohrrübe. Aber noch mußte ich eine Ewigkeit herumsuchen, bis ich eine gebrauchsfähige Luftpumpe fand, denn an dem Vorderrad meines Fahrrades hing der Schlauch schlapp und ohne Luft.
Nisse kam aus dem Haus. „Du siehst wie die schwedische Fahne aus, wenn du dich so anziehst“, stellte er fest, und die kleine Nirre folgte ihm auf den Fersen und quengelte: „Lieber Nisse, kannst du mir nicht mein Fahrrad aufpumpen?“ Aber Nisse war noch vom Streit am Frühstückstisch ein wenig sauer und fand, sie könne es selbst tun – und so stritten sie also diesmal um diese Frage. Zum Glück hatte ich mein Rad gerade flott, schwang mich mit einem „Adjö, ihr Streithähne!“ in den Sattel und radelte über den holprigen Steig der großen Landstraße zu. So froh war mir seit langem nicht zumute – nicht auszudenken: ein Pony im Dorf! –, und ich pfiff beim Radeln einen alten Schlager. Aber ich brach brüsk ab und wäre beinahe in den Bach gefallen, so jäh stoppte ich auf der kleinen Brücke. Dort drüben, auf der anderen Seite des Baches, stand nämlich ein schwarzes Pony auf einer sonnenbeschienenen grünen Wiese und schaute neugierig zu mir herüber. Es mochte etwa 135 Zentimeter hoch sein, war recht kräftig gebaut, mit stabilen Beinen und einem starken Hals. Ein Gotlandpony – ein Russe! –, darauf hätte ich schwören können! Die dunklen Augen blitzten munter unter einem gewaltigen Schopf hervor, der nach allen Richtungen stand. Mähne und Schweif waren lang und hatten die Bürste dringend nötig. Ich ging zum Gattertor des eingezäunten Weideplatzes und lockte das Pony vorsichtig.
„Lilleman!“ rief ich leise. „Lilleman!“
Es schien dem Namen keine Beachtung zu schenken, aber es schaute die ganze Zeit aufmerksam zu mir hin. Die Mohrrübe in meiner Hand verleitete es wohl, ein paar vorsichtige Schritte in meine Richtung zu wagen, plötzlich aber machte es schnaubend eine Kehrt um die Hinterhand und galoppierte dröhnend quer über die Wiese. Im entferntesten Eck des Weideplatzes blieb es stehen und schien sich nicht mehr um mich zu kümmern. Ich trat durch das Gatter in die Wiese, setzte mich ins Gras und wartete. Das Pony tat, als merke es nicht, daß ich dasaß, kam aber doch, heftig Gras rupfend und kauend, vorsichtig näher. Bald war es nur noch wenige Meter von mir entfernt. Wieder begann ich, es mit leiser Stimme anzureden und mit der Möhre zu locken. Es streckte vorsichtig seinen Kopf, erreichte aber die Möhre nicht. Da tat es einen Schritt nach vorn, sehr zögernd und nur mit den Vorderbeinen, und kam dadurch in eine recht lustige, gestreckt-gedehnte Körperhaltung. Als es dann genußvoll die Möhre verzehrte und sich auf seiner Oberlippe beim Kauen viele kleine Runzeln bildeten, sah es so goldig aus, daß ich, ohne nachzudenken, eine Hand hob, um ihm über den Kopf zu streicheln. Da fuhr es erschrocken auf und hetzte quer über die Wiese in seine Ecke zurück. Du liebe Zeit, wie scheu es ist, mußte ich denken.
Wie lange ich dann im Gras lag und immerzu auf das schwarze Pony achtete, weiß ich nicht mehr, ich wurde erst richtig wach, als jemand gegangen kam und über meine Beine stolperte. Ein Junge in meinem Alter, mit ganz hellem Haar. Er trug Jeans und ein Sporthemd, genau wie ich, in der Hand hielt er ein Halfter. Es mußte Hakan Bohlin, der Besitzer des Ponys, sein.
„Oh, Verzeihung!“ sagten wir wie aus einem Mund, und ich erhob mich. Einen Augenblick lang standen wir uns schweigend und verlegen gegenüber, bis ich fragte: „Es ist dein Pferd, nicht wahr?“
Hakan nickte. „Obwohl ich wünschte, wir hätten Lilleman nie gekauft. Er hat uns bis jetzt nur Kummer gemacht. Er war von Anfang an unmöglich und ist jetzt ärger denn je. Papa sagt, wenn noch einmal etwas mit ihm passiert, müssen wir ihn verkaufen.
„Ich habe heute früh die Geschichte von seiner letzten Unternehmung in der Zeitung gelesen“, sagte ich.
„Und es war nicht das erstemal, daß er ausgebrochen ist“, erklärte Hakan. „Die Leute, die dort oben in der Sommervilla wohnen, sind rasend auf ihn und drohen uns mit allem möglichen, denn er hat ihre Rosen zertrampelt. Und der alte Andersson hat glatt erklärt, er würde sein Jagdgewehr hervorholen, wenn er Lilleman noch einmal in seinen Erdbeerbeeten erwischt.“
„Großartige Nachbarn!“ rief ich ironisch aus.
„Aber man kann sie verstehen“, sagte Hakan und seufzte.
„Reitest du ihn denn?“ fragte ich interessiert.
„Ich hab es oft genug versucht“, antwortete Hakan bitter. „Aber ich bin es leid. Er wirft mich doch immer wieder ab und rennt zum Stall zurück.“
„Himmel!“ entfuhr es mir, und ich starrte ihn an. „Warum tust du denn nichts dagegen? Warum sitzt du nicht augenblicklich wieder auf, sooft er dich auch abwirft – bis er es leid wird und langsam begreift, wer zu bestimmen hat?!“
„Ach was“, sagte Hakan wütend. „Mußtest du deshalb hierherkommen, um mir das zu sagen? Du weißt eben nicht, was es heißt, dieses Pony zu reiten!“ Er zeigte zu Lilleman hinüber. Das junge Pony hielt noch immer seinen Sicherheitsabstand und schaute mißtrauisch abwartend zu uns herüber.
„Man müßte es einmal ausprobieren, das wäre toll!“ sagte ich.
„Toll“, äffte mich Hakan nach. „Du bist ja nicht gescheit! Dieses Tier hat Dynamit im Leib. Beim letztenmal, als er mich abwarf, hätte ich mir das Rückgrat brechen können.“
„Das klingt nicht sehr ermunternd“, mußte ich zugeben. „Ist er denn eingefahren?“
„Ja, doch.“ Hakans Stimme war nicht überzeugend. „Aber es ist anstrengend, ihn einzuspannen, und es ist wahnsinnig schwer, ihn hier von der Weide wegzukriegen. Also: sehr oft kommt es nicht dazu. Eigentlich wollte ich eben jetzt eine Stunde ausfahren, wenn ich ihn erstmal einfangen könnte.“
„Er ist sehr kopfscheu, das habe ich schon bemerkt“, sagte ich zu Hakan.
„Ja, das weiß ich. Er ist ja auch erst fünf Jahre alt und hatte schon mehrere Herren. Einer seiner Besitzer wird ihn wohl einmal zu rauh angepackt haben. Pferde vergessen das nicht.“
Mir tat Lilleman langsam leid. Sicher war er von Anfang an falsch erzogen worden und dadurch dieses eigensinnige, mißtrauische kleine Pferd geworden, das niemandem mehr Glauben schenken wollte.
„Warum habt ihr ihn eigentlich gekauft?“ fragte ich. „Ich meine – dir liegt wohl nicht viel an ihm?“
„Tja – Vater fand, es wäre hübsch, ein Pony zu haben.“
„Du liebe Zeit, das nennt man Schicksals-Tücke!“
„Was meinst du damit?“ Hakan starrte mich erstaunt an.
„Ich meine, wenn mein Vater jemals auf die strahlende Idee käme, mir ein Pony zu kaufen, dann wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt!“
„Du weißt nicht, was du redest“, sagte Hakan düster, aber ich lachte nur und machte ihm den Vorschlag, Lilleman gemeinsam einzufangen.
Das Pony kümmerte sich, weder um Hakan noch um mich, als wir nun mit dem Halfter in der Hand zu ihm hinübergingen; es zog sich nur ganz in seine Zaunecke zurück. Nach einer halben Ewigkeit glückte es Hakan, dem Tier so nahe zu kommen, daß er es am Schopf packen konnte; doch als er ihm das Halfter überziehen wollte, riß sich Lilleman durch einen Ruck mit dem Kopf los und trabte herausfordernd