Er begann die Schriften der Mystiker zu lesen, deren Gedanken ihn sein ganzes Leben lang begleiten und prägen würden. Als junger Mann durchlebte er über mehrere Jahre zurückgezogen und in großer – teils erzwungener, teils selbst gewählter – Askese eine sehr schwere Zeit nicht nur äußeren Mangels, sondern auch innerer Leere und Dunkelheit. Schließlich erreichte ihn die befreiende Erkenntnis: „... die versöhnende Gnade Jesu Christi wurde ihm so gründlich und überzeugend bloßgelegt, dass sein Herz völlig beruhigt wurde.“3 In einer Art schriftlichem Gelöbnis, der sogenannten „Blutverschreibung“, weihte er sich am Gründonnerstag 1724 ganz Jesus. Dieses Datum markiert einen gewissen Wendepunkt auch in seiner äußeren Lebensgestaltung. Er lockerte seine bis dahin streng asketische Lebensweise etwas, gab seine Einsamkeit auf und eröffnete mit einem Geistesverwandten eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft. Er erteilte seinen Nichten und Neffen Religionsunterricht, schrieb erste Gedichte und begann die Schriften der Mystiker zu übersetzen, die ihm so viel bedeuteten. Auch der Beginn seiner seelsorgerischen Arbeit, die ihn bis zu seinem Tode zunehmend beschäftigen würde, liegt in diesen Jahren.
Von seiner Tätigkeit als Armenarzt und seiner Herstellung und dem Vertrieb von Arzneien war schon die Rede. So bietet sein Leben das interessante Bild eines Menschen zwischen Rückzug und Zuwendung, zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft, zwischen Stille und unermüdlicher Wirksamkeit.
Gerhard Tersteegen starb am 3. April 1769.
2. Zu diesem Buch
Lesehilfen
Jedes Denken und jede Theologie ist immer auch zeitgebunden. Manches an Tersteegens Gedanken können wir heute hinterfragen. Die Schönheit der Schöpfung, die Freude und das Lachen etwa kommen in seinen Gedanken nicht zu dem Recht, das sie in einer ausgewogeneren Theologie hätten. Aber selbst wenn wir manches an seinen Gedanken zum geistlichen Leben als einseitig empfinden mögen, bleibt doch noch sehr vieles, was uns heute tiefgehende Impulse zu geben vermag für unser Leben und Glauben. Die Weite seines geistlichen Horizonts, die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit seiner Nachfolge, die Radikalität seiner Liebe und vor allem seine Betonung eines Lebens in der Gegenwart Gottes beeindrucken und inspirieren uns heute noch.
Zur Auswahl und zur sprachlichen Gestalt der Schriften
Gerhard Tersteegens publizistische Arbeit bestand neben seiner geistlichen Dichtung, die er gesammelt im „Geistlichen Blumengärtlein“ schon 1729 veröffentlichte, vorwiegend in übersetzerischer Tätigkeit. Berühmt wurden seine Übersetzungen von Biografien vorbildlicher Christen, die unter dem Titel „Auserlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen“ in drei Teilen erschienen.
Seine zu verschiedenen Anlässen selbst verfassten kleinen Schriften fasste Tersteegen in einem Buch zusammen, dem er den Titel „Weg der Wahrheit“ gab. Aus der letzten von Tersteegen verantworteten vierten Auflage (1768), die 1968 bei Steinkopf in Stuttgart noch einmal nachgedruckt wurde, sind die Texte für unser Buch entnommen. Sie wurden lediglich geringfügig und im Wesentlichen orthografisch der heutigen Schreibweise angepasst. Die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten Tersteegens wurden jedoch weitgehend belassen.
Den Herausgeber leitete bei der Auswahl der Schriften Tersteegens die Überlegung, das Herausfordernde der Spiritualität Tersteegens und zugleich ihre große Aktualität für unsere von Ablenkungsaufforderungen wimmelnde Zeit zu betonen.
1 Benrath, Gustav Adolf: Tersteegens Begriff der Mystik und der mystischen Theologie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel. Göttingen 2010. S. 325.
2 Zumindest deutet das die „Lebensbeschreibung des seligen Gerhard Tersteegen“ an, die posthum von seinem engen Umfeld verfasst worden war. In: Gerhard Tersteegen, Wir sind hier fremde Gäste. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. von Walter Nigg. Wuppertal 21980. S. 4.
3 Nach Cornelius Pieter van Andel, Gerhard Tersteegen. In: Orthodoxie und Pietismus. Hrsg. von Martin Greschat. Stuttgart 21994. S. 332 (= Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 7).
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