»Es ist verständlich, dass du nicht gut auf die Russen zu sprechen bist. Das nehme ich dir nicht übel, aber wir werden vielleicht mit Vysotsky zusammenarbeiten müssen.«
»Wir dürfen ihm nicht vertrauen.«
»Die Leute, die deinen Vater getötet haben, sind nicht die gleichen, mit denen wir es jetzt zu tun haben.«
»Das kannst du nicht wissen«, sagte sie. »Der SVR ist der Nachfolger des KGB. Einige Leute, die damals für die nationale Sicherheit arbeiteten, sind noch immer dort beschäftigt. Vysotsky ist einer von ihnen.«
»Ja, aber Vysotsky hat uns in der Vergangenheit geholfen.«
»Bist du fertig?«, fragte sie mit eisiger Stimme.
Sie hatten den Sumpf des Stadtverkehrs erreicht.
Nick spürte, dass er wütend wurde. Vielleicht lag es an seinen Sitzungen mit dem Seelenklempner. Seit er begonnen hatte, sich wegen seiner posttraumatischen Belastungsstörungen helfen zu lassen, hatten sich die Dinge zwischen Selena und ihm sehr gebessert. Die Albträume über Afghanistan kamen weniger häufig, aber er schlug nachts immer noch um sich. Das machte es schwer, sich ein Bett zu teilen. Deshalb schliefen sie getrennt, und die Anspannung deswegen machte sich zunehmend bemerkbar.
Die Albträume hatten begonnen, nachdem er in Afghanistan von einer Granate verwundet worden war. Ein Kind hatte die Granate geworfen, ein Junge, kaum älter als zehn oder elf Jahre. Nick hatte ihn nicht töten wollen. Er hatte gezögert, wollte den Schuss nicht abgeben. Sein Zögern hätte ihm beinahe das Leben gekostet.
Die Sitzungen schienen zudem einiges aufzuwirbeln, was nichts mit den Ereignissen in Afghanistan zu tun hatte. Dinge, an die er nicht denken wollte, wie seine Kindheit etwa. Oder seinen Vater. Nicks Vater war ein Trinker gewesen, ein Frauenheld und Schläger. Carter Senior hatte seine Frau und Nick regelmäßig verprügelt, bis Nick alt genug war, um sich zu wehren. Seine Schwester hatte ihn von seinem Vater heruntergezogen, sonst hätte er ihn womöglich umgebracht. Sie hatte er immer in Ruhe gelassen. Sie verteidigte seinen Dad noch immer, aber sie hatte ihm nie verraten, wieso. Das war einer der Gründe, weshalb er nicht gut mit ihr auskam.
Es kam ihm so vor, als würde Selena ihn abweisen, weil sie nicht hören wollte, was er zu sagen hatte. Genau wie seine Schwester. Es machte ihn sauer, wenn sie das tat. Er holte tief Luft.
»Nein, ich bin nicht fertig. Solange ich das Team anführe, muss ich wissen, dass ich mich zu einhundert Prozent auf jeden Einzelnen verlassen kann. Wenn du nicht trennen kannst zwischen dem, was deinem Vater widerfahren ist, und dem, was wir jetzt tun, muss ich mir Sorgen um dich machen. Ich weiß, wie du dich fühlst …«
Sie unterbrach ihn. »Nein, das weißt du nicht.« Ihre Stimme wurde lauter. »Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle. Also erzähl mir nicht, du würdest es wissen.«
Sie erreichten den DuPont Circle. Selena fuhr an den Straßenrand und trat auf die Bremse.
»Steig aus«, sagte sie.
Er sah sie an.
»Steig aus«, wiederholte sie.
Er wollte etwas erwidern und biss sich auf die Zunge. Er stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Sie trat aufs Gas und schoss mit qualmenden Reifen davon.
Manchmal fragte er sich, wieso er überhaupt mit ihr zusammen war. Dann begann er seinen langen Fußweg zurück zu seinem Appartement.
Kapitel 11
Sarah McLachlans eindringliche Stimme hallte durch die eleganten Räume von Selenas Luxusappartement. Ihr Drink stand unangerührt auf dem Beistelltisch neben der Couch. Seit beinahe einer Stunde starrte sie aus dem Fenster hinaus und versuchte sich einen Reim auf die widersprüchlichen Gedanken und Gefühle zu machen, die ihr durch den Kopf gingen.
Selenas Zuhause befand sich in der obersten Etage einer der exklusivsten Wohnhäuser Washingtons. Die Wand ihres Wohnzimmers bestand vom Boden bis zur Decke aus Fenstern. Direkt dahinter befand sich ein breiter, privater Balkon mit einem kunstvollen schmiedeeisernen Geländer. Die Fenster boten einen spektakulären Ausblick auf das ländliche Virginia jenseits des Potomac. Topfpflanzen und eine Vielzahl bunt blühender Gewächse waren in zufälligen Abständen entlang des Balkons verteilt. Es war die Art von Stadtwohnung, die man auf den Titelseiten von Architekturmagazinen finden konnte.
Normalerweise beruhigte sie dieser Anblick und bestärkte sie darin, dass es noch Stabilität und Ordnung in der Welt gab. Aber nicht heute. Heute war das Fundament dieser Ordnung ins Wanken geraten.
Ihr Vater war ein Verräter.
Das Wort Verräter hallte durch ihren Kopf. Sie erinnerte sich noch an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte. Da war sie zehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter, ihr Vater und ihr älterer Bruder wollten an diesem Wochenende an die Big Sur fahren. Sie alle hatten sich sehr auf diesen Ausflug gefreut. Aber dann hatte sie sich erkältet und Fieber bekommen und sie nicht begleiten können. Ihr Vater war in ihr Zimmer gekommen. Sie hatte aufrecht gegen ihre Kissen gelehnt in ihrem Bett gesessen und mit ihrer Lieblingspuppe gespielt. Sie erinnerte sich, dass er nach Rasierwasser und Zigaretten gerochen hatte.
»Wie geht es meinem kleinen Mädchen?«
»Schon viel besser, Daddy. Kann ich mitkommen?«
»Dieses Mal nicht, Spätzchen.«
»Joe«, rief ihre Mutter die Treppen hinauf. »Wir müssen los.«
»Onkel William wird hier bei dir bleiben. Wir sind Sonntagabend wieder zurück, ehe du dich versiehst. Dann geht es dir sicher schon viel besser. Und nächstes Wochenende fahren wir zum Strand.«
Er beugte sich über sie und küsste ihre Stirn.
»Bye, Daddy.«
»Mach’s gut, Spätzchen.«
Dann war er zur Tür hinaus. Das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte.
Es hatte über ein Jahr gedauert und viel Liebe ihres Onkels William bedurft, um sie nach dem Tod ihrer Familie wieder aus ihrem Schneckenhaus zu bekommen.
Der Inhalt dieser Akte hatte eine Reihe von Schocks für sie bereitgehalten. Der erste Schock war, dass ihr Vater für die CIA gearbeitet hatte. Sie hätte ihn nie für einen Spion gehalten. Laut der Akte hatte er beinahe die letzten drei Jahre vor seinem Tod unter Beobachtung gestanden. Das war eine lange Zeit, um jemanden ungehindert Geheimnisse in die Welt tragen zu lassen. Das bestärkte ihren Glauben daran, dass die Akte gefälscht und dafür gedacht sein musste, die Spuren von jemand anderes zu verwischen.
Die Akte enthielt zudem Zeitpunkte von geheimen Treffen mit feindlichen Agenten. Aufzeichnungen über verdächtige Geldeingänge auf seinem Konto. Alte Schwarzweiß-Fotografien, die Übergabeorte und Treffen in San Francisco und Washington zeigten. Mitschriften von Telefonanrufen. Eine belastende Beweiskette, die scheinbar nur zu einer logischen Schlussfolgerung führte, nämlich der, dass ihr Vater vertrauliches Material an den Feind verkauft hatte.
Langley wusste, dass ihr Vater mit den Russen zusammenarbeitete, und hatte ihn gewähren lassen. Das Einzige, was für sie einen Sinn ergab, war, dass sein Austausch mit dem KGB eine von der CIA genehmigte Geheimoperation war. Wenn das stimmte, war er kein Verräter, sondern ein unbesungener Held. Und nur, weil die Akte Joseph Connor des Verrats beschuldigte, musste es noch nicht der Wahrheit entsprechen.
Nick hatte gesagt, dass die Akte der einzige bestätigte Hinweis auf die Aktivitäten ihres Vaters darstellte. Wenn das der Wahrheit entsprach, gab es keinen anderen Weg, die Unschuld oder Schuld ihres Vaters zu beweisen. Schlimmer noch, es gab niemanden, den sie bitten konnte, weiter nachzuforschen. Außer Nick.
Nick.
Selena griff nach ihrem Drink. Das Eis war geschmolzen.