Jedenfalls führte das alles dazu, daß ich die ersten sechs Jahre meines Lebens nur mit meiner Mutter verbracht habe, die in mir eine durchaus ernst zu nehmende Partnerin im täglichen Leben sah. Ich besetzte gleichzeitig die Rolle des abwesenden Ehemannes, der fehlenden Freundinnen und der nur am Rande vorhandenen Familie meiner Mutter. Ich wurde eine kleine Erwachsene und das Zentrum all der Liebe, die meine Mutter zu verschenken hatte; mir galt all ihre Aufmerksamkeit.
In den ersten vier Jahren meines Lebens habe ich mehr gelernt und erfahren als viele Kinder überhaupt und sicher mehr als die meisten deutschen Kinder damals. Es gibt eine ganze Reihe von Fotos aus dieser Zeit; meine Mutter war eine passionierte Fotografin, und der Fotoapparat, den sie damals hatte, hat uns, wie die Fotoalben auch, durch alle Bombardierungen, Evakuierungen und Fluchten begleitet. Offenbar ist auch immer jemand da gewesen, der uns beide oder hie und da sogar alle drei fotografiert hat. Auf den Fotos sind eine glückliche Mutter, ein uniformierter Vater und ein aufgewecktes Kind zu sehen, das offenbar eine große Garderobe besaß. Meine Mutter war eine begnadete Näherin, die sogar noch aus Pferdedecken Wintermäntel schneidern konnte. Ich bin gewiß eines der bestangezogenen Kinder zu der Zeit gewesen, denn aus jedem Fetzen Stoff hat sie noch etwas Brauchbares für mich kreiert. Stricken und Häkeln konnte sie natürlich auch hervorragend – ich erinnere mich nicht nur an bildschöne Pullover mit aufgesticktem Monogramm, sondern auch an fürchterliche Unterhosen im Muster 3-R-1-L-versetzt (falls Sie das nachstricken wollen: drei rechte Maschen, eine linke – auf der Rückseite wird dann die linke Masche zur mittleren rechten –, aber ich warne Sie: das Resultat wird untragbar sein ...), aber das kam erst einige Zeit später.
Erinnerungen aus den ersten vier Jahren in Berlin? Da gibt es erstaunlich viele. Schneeige Winter zum Beispiel, in denen ich weiße Gamaschenhosen und einen dunkelblauen Samtmantel mit dazugehörigem Hütchen trug. Wir sind Unter den Linden spazierengegangen: Meine Mutter im Pelzmantel (wenn wir das so nennen wollen; es war, glaube ich, ein Fohlenmantel) und hohen Absätzen! Abgesehen davon, daß man damals nicht unbedingt Stiefel trug oder es dann bald auch keine gab, hatte sie wunderschöne Beine, die sie wahrscheinlich lieber gezeigt (und dabei gefroren) als bedeckt hat. Sie hatte offenbar dieselben Beinmaße wie Marlene Dietrich – mein Vater soll das mal nachgemessen haben –, hatte wunderschöne Hände und war überhaupt eine attraktive, elegante Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog. Aber vor allem war sie ein liebenswürdiger Mensch mit Charme und einem großartigen Sinn für Humor.
Woher ich das alles weiß? Ich habe unzählige Male erlebt, wie irgendein Mann uns irgend etwas zulieb getan hat; einem davon verdanke ich vielleicht mein Leben. Bei einem der Transporte, wo wir vor irgend etwas flüchten mußten – entweder aus dem zerbombten Berlin oder aus Ostpreußen, wohin wir evakuiert worden waren und von wo wir dann in letzter Minute nach Thüringen verfrachtet wurden –, ging es darum, im letzten Zug noch unterzukommen. Sie müssen sich das genauso vorstellen, wie man es in Kriegsfilmen sieht: Völlig überfüllte Züge, Trauben von Menschen an den Zugtüren und auf den Waggons, und Hunderte auf dem Bahnsteig, die noch mitwollen. Wer immer der Mann war, er schuf eine Lücke, stieß meine Mutter hinein, die von dem Sog der Menschen ins Wageninnere gezogen wurde und an einem der offenen Fenster landete. Sie schrie: »Mein Kind! Mein Kind!«, aber der Unbekannte hatte sie bereits am Fenster entdeckt und sich den Weg dorthin gebahnt. In Windeseile reichte er Kind und das draußen gebliebene Fluchtgepäck durchs Fenster; schluchzende Mutter und weinendes Kind vereint inmitten von aufeinandergetürmten Gepäckstücken – was hätte Hollywood daraus gemacht? Ich bin sicher, in dieser Geschichte hat es dann einen Mann gegeben, der im Innern des Zuges dafür gesorgt hat, daß diese hübsche Frau mit ihrem auch-nicht-so-häßlichen Kind ihr Gepäck verstaut bekommen und irgendeinen, wenn auch vielleicht improvisierten Sitzplatz gefunden hat.
Was immer der Ausgangspunkt dieser Reise gewesen ist, sie muß 1943 oder danach stattgefunden haben. Bis dahin lebten wir nämlich in Berlin, und gar nicht mal so schlecht. Meine Mutter war sehr praktisch veranlagt, und sie hatte schnell begriffen, wie man mit rationierten Lebensmitteln durchkam. Zum einen mußte sie die Lebensmittelmarken-Ausgabe für den Wohnblock übernehmen. Das brachte uns in Kontakt mit der ganzen Nachbarschaft, die einmal im Monat bei uns vorbeischauen und die Monatsmarken abholen mußte. Meine Mutter war (fast) immer gut gelaunt und allgemein beliebt. Ich bin sicher, daß ihr diese aufgezwungene Tätigkeit sehr geholfen hat, als sie anfing, ziemlich leichtsinnig im Luftschutzkeller Hitler-Witze zu erzählen. Obwohl das beileibe nicht allen gefallen hat, hat niemand sie verraten; in vielen anderen Fällen hat so etwas genügt, um in einem Konzentrationslager zu landen.
Lebensmittelkarten wurden noch in einer anderen Weise wichtig. Durch geschicktes Kombinieren von Fett-, Zucker-, Fleisch- und Brotmarken schaffte es meine Mutter, daß wir fast jeden Tag auswärts essen konnten. Schon bald hatten wir ein Lieblingslokal: das »Berliner Kindl« auf dem Kurfürstendamm. Dort kannten uns alle Kellner und wahrscheinlich auch alle aus der Küche. Jedenfalls haben wir beide fast täglich dort zu Mittag gegessen. Meine Mutter hat die Vorteile, die ihr Aussehen und ihr Charme ihr brachten, geschätzt, und obwohl sie gut und gerne flirtete, hatte sie keine Absicht, ihren in Frankreich weilenden Ehemann zu betrügen, was ihr nicht auf gleiche Weise vergolten wurde. Sie hatte sich ihre eigene kleine Welt geschaffen, in der ich die Partnerin in einer engen Zweierbeziehung war.
Und damit waren einige Lernerfahrungen verbunden. So mußte ich zum Beispiel schon sehr früh lernen, in diesem Restaurant (oder wo immer sonst wir einkehrten) alleine auf die Toilette zu gehen. Nachdem meine Mutter mich ein paar Mal begleitet hatte und ich mit drei Jahren durchaus in der Lage war, mein Geschäft ohne sie zu verrichten, schickte sie mich alleine auf die weite Reise. Diese Reise bestand aus ca. fünf Metern geradeaus, bevor ich eine kleine Treppe hinuntermußte, wo sich die Damentoilette befand. Ich wartete jeweils bis zum allerletzten Moment, nachdem ich vorher meine Mutter angefleht hatte mitzukommen. Sie erklärte mir immer wieder geduldig, daß ich lernen müßte, die paar Schritte alleine zu gehen, und wenn es dann wirklich eilte, stand ich tränenüberströmt auf, stolperte los und rannte prompt in den nächsten Tisch oder den ersten Kellner, dem ich begegnete. Das ist vielleicht nicht jedesmal so abgelaufen, denn irgendwann habe ich begriffen, daß meine Mutter nicht nachgeben würde, aber meine Erinnerung an diese Expeditionen ist so stark, daß ich heute noch das Restaurant, »unseren« Tisch und den hindernisreichen Weg zu »Damen« zeichnen könnte.
Meine Mutter hatte zwar keine glückliche Kindheit gehabt, aber sie hatte das mitbekommen, was man Kinderstube nennt. Dazu gehörten selbstverständlich gute Tischmanieren, und so konnte ich bereits im zarten Alter von drei Jahren sehr gut mit Messer und Gabel umgehen. Ich saß »anständig« am Tisch, rannte nicht im Restaurant herum und verschüttete keine Getränke. Ich glaube, meine Mutter hätte mich zu Hause gelassen, wenn ich das alles nicht schnell gelernt hätte; für gewisse Nachlässigkeiten hatte sie schon damals kein Verständnis. Im Grunde genommen fand ich das alles auch ganz gut, außer eben der Sache mit der Toilette.
Und wenn ich alleine zu Hause geblieben wäre? Na, dann hätte ich eben wie eine »kleine Große«, wie mich meine Mutter nannte, das Telefon bedient und meiner Mutter bei ihrem Nach-Hause-Kommen erzählt, wer angerufen hat und mit wem ich lange Unterhaltungen gehabt hatte. Oder ich hätte mir die Zeit mit meinen zahlreichen Spielsachen vertrieben oder im Kleiderschrank herumgestöbert – einem dieser alten, dreiteiligen mit einer Spiegeltür in der Mitte –, wo unten, in Seidenpapier verborgen, Schätze lagen. Dort fand ich zum Beispiel die Abendtasche meiner Mutter, die einen Knipsverschluß hatte. Offenbar konnte ich stundenlang damit spielen, wobei der Knipsverschluß bald einmal keiner mehr war und das Gelenk der Seidentasche zurechtgebogen werden mußte, damit die Tasche wieder schloß.
Mein Lieblingsschatz war jedoch der Fuchs, den man sich so malerisch umlegen konnte. Es kostete mich zwar etwas Überwindung, ihn anzufassen, denn damals nahm man noch das ganze Tier, und ich hatte irgendwie Angst vor seinen kralligen Extremitäten. Aber die Mischung aus dem Parfüm meiner Mutter, den Mottenkugeln und dem eigentlichen Tiergeruch übte eine große Faszination auf mich aus, und wenn es auch eher so aussah, als ob der