Das Thema »Strafarbeit« kam zur Sprache, darum hatten offenbar mehrere Eltern – und anderem ich – gebeten. Was ich dann an diesem Septemberabend zu hören bekam, irritierte mich zutiefst. Viele der anderen Eltern freuten sich über die Strafarbeit. »Endlich mal Disziplin!«, war der Tenor der Diskussion, und funktioniert hatte es schließlich auch, der Klassenraum sah am Elternabend picobello aus. Keine Frage, das stimmte. Meistens ist das auch so, dass Strafen – wie auch Belohnungen – den gewünschten Effekt haben, zumindest für eine gewisse Zeit.
Doch weshalb ist das so? Belohnungen und Bestrafungen aktivieren Emotionen, das können Neurowissenschaftler inzwischen anhand von Aufnahmen des Gehirns nachweisen. Und wann immer Emotionen im Spiel sind, lernen wir etwas. In diesem Falle, wie wir am besten Belohnungen einheimsen und Bestrafungen vermeiden. In den seltensten Fällen führen solche Anreize aber dazu, dass die Lust steigt, sein Wissen und Können einzubringen und weiter zu entwickeln. Oder die Lust, den Klassenraum aufzuräumen. Ebenso wenig findet eine Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen anderer statt. Dem Lehrer ging es vermutlich um Ordnung im Raum, eine freundliche Lernatmosphäre und vielleicht auch um eine gewisse Anerkennung seines Wunsches und seiner Person. Doch wie finden er und die Kinder einen Weg, seine Bedürfnisse zu erfüllen – und gleichzeitig die der Kinder einzubeziehen? Durch eine Strafarbeit sicher nicht, auch nicht als »letztes Mittel«.
Im Kontext Schule braucht der Einsatz von Belohnung und Bestrafung besondere Vorsicht, denn die jungen Menschen lernen damit bereits in einer sehr frühen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung, sich an diese Mechanismen anzupassen. Diese Konditionierung erleben sie dann früher oder später als normal. Wie sehr, das wurde mir in einer norddeutschen Hochschule bewusst. Ich übernehme hin und wieder Lehraufträge, da mir die Arbeit mit jungen Leuten sehr wichtig ist.
Da saßen nun also an einem sonnigen Maivormittag ungefähr 30 Studierende, und wir sprachen über das Bild, das wir von uns selbst und von anderen Menschen haben. Bei der Bitte, sich selbst einzuschätzen, sagten fast zwei Drittel der Gruppe, sie wünschten sich Ansagen und würden ungern Verantwortung übernehmen. Wie bitte? Ich nutze diese Art der Selbsteinschätzung durchaus häufiger bei Vorträgen, doch so ein großer Anteil, der sich für nicht aus sich heraus motiviert hält, war mir bis dahin noch nie begegnet – und ist mir auch seitdem nicht mehr begegnet.
Wie kamen so junge Menschen zu diesem Schluss? Die waren doch bisher kaum mit Unternehmen in Kontakt, angesichts deren Strukturen sie auf solche Gedanken hätten kommen können. Offenbar leisten Schulen und Universitäten da bereits früh ganze Arbeit. Das ist dramatisch! Das versteckte Curriculum wirkt dabei oft viel stärker als jeder Unterricht – egal, wie gut oder schlecht er ist. Das kann ich an meinen Kindern gut studieren: Während sie Inhalte aus der Zeit vor vier, fünf oder sechs Jahren längst vergessen haben, erinnern sie sich an die Erlebnisse mit Strafarbeit oder Händeschütteln nur zu gut. Leider.
Schule, wie wir sie heute erleben, ist vielfach immer noch von Hierarchie geprägt – Aufgabenerfüllung, Verwaltung und Überwachung, steuernde, standardisierende und kontrollierende Führung sind wesentliche Elemente, Effizienz ist das Ziel. Damit verhindert Schule aber gerade genau das, worauf es in Zukunft ankommt: Selbstorganisation, Selbstbestimmung, Verantwortung, Beziehungen, Kooperation, Kreativität und Innovation. Alle Beteiligten merken, dass da was nicht passt, und spüren die dadurch wachsende Spannung.
Und, was hast du?
Diese Spannung trägt zu dem großen Druck bei, der in Schulen heute vielfach spürbar ist. Schon ab der zweiten Klasse geht es um den Übergang auf das Gymnasium, in Klasse fünf und sechs um den Verbleib auf demselben und später um den besten Abischnitt. Konkurrenz und Vergleich sind allgegenwärtig. Meine Tochter, durchaus eine »gute« Schülerin, sagte auf die Frage, was sie an Schule am meisten stört: »Die Frage: Und, was hast du?« Nach jeder Arbeit und jeder Zeugnisvergabe beginnt das große Vergleichen: Wer ist besser als der andere? Die Vergleiche erzeugen Druck – und der tut ihr nicht gut. Anderen auch nicht, wie sie aus Gesprächen mit ihren Freundinnen und Klassenkameraden weiß. Nicht selten kommt dann noch Druck von zu Hause dazu. Eine Mitschülerin darf bei einer Note schlechter als »gut« für vier Wochen nicht mehr zum Tanztraining gehen, sondern muss stattdessen lernen, ein Klassenkamerad sieht sich bei jeder schlechten Note mit Standpauken konfrontiert. Unterstützung sieht anders aus.
Doch auch Eltern stehen immer wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie wollen das Beste für ihre Kinder und möchten für einen möglichst hohen Bildungsabschluss sorgen, damit ihre Kinder später ein gutes Leben haben. Eine Fokussierung auf Fachwissen, Noten und Vergleichstests wie PISA ist oft die Folge.
Der Druck aus den Elternhäusern kommt aber nicht nur bei den Kindern an, sondern genauso bei den Lehrerinnen und Lehrern. Sie müssen vorgegebene Lehrpläne erfüllen, Stoff durchackern, Fehler anstreichen und bewerten. Viel zu oft werden die Pädagogen in diesem System zu Defizitnachweisern, und das sehr häufig gegen ihre Überzeugungen. Sie wollen mehrheitlich etwas anderes, wollen ihre Schülerinnen und Schüler unterstützen auf ihrem Weg. Doch das ist kaum möglich, wenn schon wieder die nächste Klausur ansteht und der Lehrer wieder Noten geben muss.
Kinder brauchen zum Lernen Menschen, mit denen sie sich austauschen können und denen sie sich verbunden fühlen.
Sich dabei seine eigene Lust am Entdecken, Gestalten und Weiterentwickeln zu erhalten, ist alles andere als einfach – und doch so notwendig, um den Job zu machen. Denn Kinder – und nicht nur sie – brauchen zum Lernen neben Freiräumen für eigenes Denken und Raum zum Ausprobieren vor allem erfahrene Menschen, mit denen sie sich austauschen können und denen sie sich emotional verbunden fühlen.
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, die Sie jeden Tag probieren, Ihren Schülerinnen und Schülern einer dieser Menschen zu sein: Danke. Ich ziehe den Hut vor der Arbeit, die Sie jeden Tag leisten. Leider zahlen Sie dafür oft einen hohen Preis.
Objekte der Belehrung
Studien belegen: Lehrer leiden häufiger als alle anderen Erwerbstätigen unter psychischer Erschöpfung. Und ungefähr ein Drittel der Kinder geht mit Angst in die Schule. Sie haben Angst, zu versagen. Sie haben Angst, beschämt zu werden, wenn sie Fehler machen. Angst und kreatives Problemlösen schließen sich aber aus. Angst und Lebendigkeit auch. Viel wahrscheinlicher ist, dass die gewohnten Mechanismen umso stärker werden. Das ist das Bekannte, Bekanntes schafft Sicherheit und Sicherheit nimmt Angst.
So ist wohl auch zu erklären, weshalb die erste der vier von der UNESCO benannten Säulen der Bildung in Schulen besondere Aufmerksamkeit bekommt, nämlich »Lernen, Wissen zu erwerben«. Keine Frage, eine ausreichend breite Allgemeinbildung, verknüpft mit der Möglichkeit, vertiefende Kenntnisse in ausgewählten Fächern zu erwerben, ist wichtig. Eine solche Grundbildung ist ein gutes Fundament für einen lebenslangen Lernprozess. Wenn es gut läuft, macht dieses Legen von Fundamenten auch Lust auf mehr. Leider ist aber der Wissenserwerb üblicherweise geprägt vom Lernen aus Büchern, durch Zuhören und Reden. Am Anfang einer Stunde steht schon fest, was am Ende rauskommen soll. Es gilt als professionell, wenn der Plan aufgeht. So wird es auch immer noch in der Lehrerausbildung gelehrt.
Die Schülerinnen und Schüler werden so zu Objekten der Belehrung, mit den entsprechenden Folgen für ihre Motivation und ihre Lust am Lernen. Aber sie sollten besser als Subjekte ihrer individuellen Lernprozesse diese selbst organisieren.