Bonds erste Gedanken waren vollkommen professionell. Sie würde einen guten Lockvogel abgeben, entschied er, und er wusste, dass man in Finnland Probleme hatte, gute Lockvögel zu bekommen. Er hielt sich eine ganze Weile lang von ihr fern und vergewisserte sich, dass sie ohne Begleitung gekommen war. Dann ging er auf sie zu und stellte sich vor. Er sagte, der Minister habe ihn gebeten, sich um sie zu kümmern. Zwei Jahre später, in Rom, erzählte Paula ihm, der Minister habe es recht früh am Abend selbst bei ihr versucht – bevor seine Gattin eingetroffen sei.
Sie war für eine Woche in London. An jenem ersten Abend führte Bond sie zu einem späten Abendessen ins Ritz aus, was sie »altmodisch« fand. Vor ihrem Hotel erteilte Paula ihm eine sanfte, aber sehr deutliche Abfuhr.
Bond setzte zur Belagerung an. Zuerst versuchte er, sie zu beeindrucken, doch ihr gefielen weder das Connaught noch das Inn on the Park, das Tiberio’s, das Dorchester, das Savoy oder das Royal Garden Roof, während sie Tee im Brown’s lediglich »amüsant« fand. Er war kurz davor gewesen, sie mit ins Tramp’s oder ins Annabel’s zu nehmen, als sie selbst das Au Savarin in der Charlotte Street entdeckte. Es war genau ihr Ding und der patron kam gegen Ende der Mahlzeiten und setzte sich zu ihnen an den Tisch, damit sie schlüpfrige Geschichten austauschen konnten. Bond war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte.
Sie wurden sehr schnell enge Freunde und entdeckten gemeinsame Interessen – Segeln, Jazz sowie die Werke von Eric Ambler. Außerdem gab es eine weitere Sportart, der sie sich am vierten Abend endlich widmeten. Bond, dessen Ansprüche bekanntermaßen hoch waren, gestand ein, dass sie eine Goldmedaille mit Eichenlaub verdiente. Im Gegenzug verlieh sie ihm das Eichenlaub. In diesem Fall war er sich ebenfalls nicht sicher, was er davon halten sollte.
Im Laufe der folgenden Jahre waren sie sehr gute Freunde geblieben, die einen »engen« Kontakt pflegten. Sie trafen sich oft zufällig an so unterschiedlichen Orten wie New York oder der französischen Hafenstadt Dieppe, wo er sie im vergangenen Herbst das letzte Mal gesehen hatte. Dieser Abend in Helsinki würde Bonds erste Gelegenheit sein, Paula in ihrer Heimat zu begegnen.
»Abendessen?«, fragte er.
»Wenn ich das Restaurant aussuchen darf.«
»Tust du das nicht immer?«
»Willst du mich abholen?«
»Das und noch mehr.«
»Bei mir zu Hause. Um halb sieben? Hast du die Adresse?«
»Sie ist in mein Herz eingemeißelt, hübsche Paula.«
»Das sagst du doch zu allen Frauen.«
»Meistens schon, aber ich meine es ehrlich. Und du weißt, dass ich eine besondere Vorliebe für Blondinen habe.«
»Du bist ein Verräter, weil du im Inter-Continental wohnst. Warum übernachtest du nicht wie ein Finne im Hesperia?«
»Weil man dort von den Fahrstuhlknöpfen Stromschläge bekommt.«
»Die bekommt man im Inter-Continental auch. Das hängt mit der Kälte und der Zentralheizung zusammen …«
»… und mit den Teppichen. Ich weiß. Aber das hier sind teurere Stromschläge, und ich muss nicht selbst zahlen. Ich kann die Kosten absetzen, also kann ich mir auch ruhig die luxuriösen Stromschläge leisten.«
»Pass bloß gut auf, was du anfasst. Hier bekommt man zu dieser Jahreszeit von jeder metallenen Oberfläche in einem Gebäude Stromschläge. Besonders im Badezimmer.«
»Ich werde Gummischuhe tragen.«
»Ich hatte nicht unbedingt deine Füße im Sinn. Ich bin so froh, dass du dieser Laune nachgegeben hast, James. Wir sehen uns um halb sieben.« Sie legte auf, bevor ihm eine elegante Erwiderung einfiel.
Draußen hielt sich die Temperatur bei etwa fünfundzwanzig Grad unter null. Bond streckte sich, entspannte sich dann wieder und nahm sein Zigarettenetui aus Geschützbronze vom Nachttisch, um sich eine Zigarette anzuzünden – eine der »Sonderanfertigungen«, die H. Simmons aus der Burlington Arcade dank einer Abmachung für ihn herstellte.
Das Zimmer war warm und gut isoliert, und Bond fühlte sich enorm zufrieden, als er den Rauch in Richtung Decke blies. Manchmal brachte sein Beruf zweifellos Entschädigungen mit sich. Erst an diesem Morgen hatte Bond Temperaturen von vierzig Grad unter null hinter sich gelassen, denn der wahre Grund für seine Anwesenheit in Helsinki hing mit einer kürzlich durchgeführten Reise zum Polarkreis zusammen.
Der Januar war nicht die angenehmste Zeit für einen Besuch der Arktis. Wenn man jedoch ein geheimes Überlebenstraining unter harten winterlichen Bedingungen absolvieren musste, war das finnische Gebiet des Polarkreises bestens dafür geeignet.
Der Service legte Wert darauf, seine Mitarbeiter für den Außeneinsatz in tadelloser Verfassung zu halten und sie in allen modernen Methoden auszubilden. Aus diesem Grund verschwand Bond mindestens einmal pro Jahr, um mit dem 22. Regiment des Special Air Service in der Nähe von Hereford zu trainieren. Und dann waren da noch seine gelegentlichen Reisen nach Poole in Dorset, bei denen er bezüglich Ausrüstung und Taktiken der Special Boat Squadron der königlichen Marine auf den neuesten Stand gebracht wurde.
Auch wenn die alte Elite der Doppelnullabteilung mit ihrer dazugehörigen »Lizenz, in Ausübung der Pflicht zu töten« mittlerweile aus dem Service entfernt worden war, war Bond immer noch fest in seiner Rolle als 007 verwurzelt. Der grimmige Leiter des Service, den alle nur als M kannten, war diesbezüglich sehr konkret gewesen: »Soweit es mich betrifft, werden Sie 007 bleiben. Ich werde die volle Verantwortung für Sie übernehmen, und Sie werden wie immer ausschließlich von mir Befehle und Aufträge entgegennehmen. Es gibt Augenblicke, in denen dieses Land einen Problemlöser braucht – ein stumpfes Werkzeug –, und bei Gott, den wird es bekommen.«
Offiziell war Bond das, was der amerikanische Geheimdienst als »Einzelexemplar« bezeichnete – ein umherziehender Fallmitarbeiter, dem bei besonderen Aufträgen freie Hand gelassen wurde, zum Beispiel bei der genialen verdeckten Ermittlung, die er während des Falklandkriegs von 1982 geleistet hatte. Damals war er sogar – nicht identifiziert – in einem Fernsehnachrichtenbericht aufgetaucht, aber darüber war genau wie über alles andere Gras gewachsen.
Um Bond in professioneller Topform zu halten, schaffte es M für gewöhnlich, mindestens eine zermürbende Feldeinsatzübung pro Jahr zu arrangieren. Dieses Mal war es der Umgang mit kaltem Klima gewesen, und Bond hatte den Befehl erst kurzfristig erhalten, sodass ihm nur wenig Zeit geblieben war, sich auf die Strapazen vorzubereiten.
Während des Winters trainierten Mitglieder der SAS-Einheiten regelmäßig im Schnee in Norwegen. Dieses Jahr hatte M ein weiteres Risiko hinzugefügt und dafür gesorgt, dass Bond eine Trainingsübung am Polarkreis ausführte, und zwar verdeckt und ohne die Erlaubnis des Landes, in dem er operieren sollte – Finnland.
Die Operation, die weder bösartige noch bedrohliche Begleiterscheinungen hatte, beinhaltete eine Woche Überlebenstraining in der Gesellschaft zweier SAS-Männer und zweier Offiziere des SBS.
Das Militär- und Marinepersonal würde es schwerer haben als Bond, denn ihr Teil würde zwei heimliche Grenzüberschreitungen erfordern – von Norwegen nach Schweden und dann, immer noch im Geheimen, weiter über die finnische Grenze, um Bond in Lappland zu treffen.
Dort würde die Gruppe, wie man es nannte, für sieben Tage »vom Gürtel leben«: Sie mussten ausschließlich mit dem Allernötigsten überleben, das sie an speziell entwickelten Gürteln bei sich trugen. Ihre Mission bestand darin, in schwierigem Terrain zu überleben und gleichzeitig unentdeckt zu bleiben und sich nicht identifizieren zu lassen.
Auf diese Woche würden weitere vier Tage folgen, in denen Bond als Anführer fungieren sollte. Sie würden an der Grenze zwischen Finnland und der Sowjetunion entlanglaufen und versuchen, Bild- und Tonaufnahmen zu machen. Danach würden Sie sich trennen – die SAS- und die SBS-Männer sollten in einer abgelegenen Gegend von einem Hubschrauber abgeholt werden, während Bond eine andere Route nahm.
Soweit es