Fee las aus diesem Kommentar, dass sie zugesehen und mitbekommen hatte, dass es ihrem Sohn endlich besser ging.
»Dafür steckt die neueste Technik in dem alten Esel«, erwiderte sie lächelnd.
Viel war nicht vom Gesicht des kleinen Patienten zu sehen. Gerade genug, damit Felicitas erkennen konnte, dass sich seine Gesichtsfarbe normalisierte.
»Ich nehme an, das war ein Allergie-Schock. Hatte Tim das schon öfter?«
»Heuschnupfen hat er schon seit ein paar Jahren.«
Fees Blick ruhte auf dem achtjährigen Kind.
»War heute irgendetwas anders? Hat Tim etwas gegessen, was diese schwere Allergie ausgelöst haben könnte? Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern. Jede Kleinigkeit ist wichtig.«
»Ehrlich gesagt habe ich ihn seit heute Morgen nicht wiedergesehen. Nach der Schule ist er gleich zu einem Freund gegangen. Irgendwann rief mich Tina an. Sie wohnen am Stadtrand von München.« Lores Blick, mit dem sie Fee ansah, war abwesend. »Sie hat mir erzählt, dass die Kinder sich in einem Getreidefeld ein Lager gebaut haben. Plötzlich kam ihr Sohn angerannt und hat Alarm geschlagen. Keine Ahnung, was …«
»Getreide?«
»Haben Sie das nie gemacht?« Lores Augen füllten sich mit glücklichen Erinnerungen. »Gänge und Höhlen im duftenden Stroh gebaut.«
Felicitas hörte nur mit einem Ohr zu.
»Doch, doch, natürlich«, erwiderte sie und ging an den Computer am Schreibtisch. Die Tastatur klapperte leise unter ihren flinken Fingern. »Ich habe den Verdacht, dass wir es mit einer Alternaria-Allergie zu tun haben.«
Lores Gesicht war ein einziges Fragenzeichen.
»Eine bitte was?«
»Bei Alternaria handelt es sich um eine weit verbreitete Gattung von Schimmelpilzen.« Während sie sprach, flogen Fees Augen über den Text am Bildschirm. »Bevorzugt wächst er auf trockenen Pflanzen. Und eben Getreidekörnern.«
»Das Feld!«
»Ganz genau.« Fee richtete sich auf. Wenn der Feind erst einen Namen hatte, war ein gutes Stück der Gefahr gebannt. Sie erinnerte sich an den Fall eines kleinen Jungen mit schwerer Nussallergie. Ihn hatte Daniel erfolgreich mit Homöopathie behandelt. Wieder klapperte die Tastatur. »Wenn sich Tim erholt hat, können Sie ihn wieder mit nach Hause nehmen. Hier ist die Adresse eines Kollegen. Er ist Schulmediziner, Allergologe, mit einer Zusatzausbildung in Homöopathie. Er wird sich optimal um Tim kümmern.« Fee reichte Lore Herbst einen Zettel mit Adresse und Telefonnummer des Kollegen.
Das Lächeln der Mutter wärmte Fees Herz noch, als sie endlich auf dem Weg zu Volker Lammers war. Am liebsten hätte sie dieses Gefühl mit beiden Händen festgehalten. Sie ahnte, was sie bei ihrem ungeliebten Stellvertreter erwartete. Schwester Elena hatte ihr von den Komplikationen berichtet. Mit gesenktem Kopf eilte sie den Flur entlang. Um diese Uhrzeit war es ruhig. Ein Besucher saß auf einer Bank, die Zeitschrift raschelte beim Umblättern. Durch die geschlossene Tür eines Krankenzimmers wehten Stimmen herüber. Ein Patient schlurfte mit einem Infusionsständer vor ihr her um die Ecke. Felicitas überholte ihn, als sich der Boden unter ihren Füßen wie von Geisterhand in eine Rutschbahn verwandelte. Auf der Suche nach einem Haltegriff ruderte sie mit den Armen durch die Luft. Vergeblich. Mit dumpfen Knall landete sie auf dem Boden. Der Schmerz schnappte zu wie ein bissiger Hund. Ihr Hosenboden wurde kühl.
»Um Gottes willen, Frau Doktor!« Ehe Fee wusste, wie ihr geschah, fühlte sie, wie an ihrem Arm gezogen und gezerrt wurde. »Ist Ihnen etwas passiert? Sie haben sich doch hoffentlich nichts gebrochen! Geht es wieder? Können Sie aufstehen?«
Am liebsten wäre Felicitas einfach sitzen geblieben. Doch Frau Görner von der Reinigungsfirma ließ ihr keine Wahl. So musste sich eine alte Frau fühlen, die den Kampf gegen die Schwerkraft verloren hatte. Mühsam rappelte sie sich hoch. Ihre Hose klebte an ihrem Hinterteil. Wie unangenehm!
»Schon gut. Es geht schon wieder.« Fee zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.
Rita Görner atmete auf.
»Ein Glück. Zwei Unfälle in einer Woche, das hätte ich mir nie verziehen. Haben Sie denn das Schild nicht gesehen? Ich habe es extra aufgestellt. Nach dem Unfall von Herrn Dr. Lammers gehe ich kein Risiko mehr ein, habe ich mir geschworen. Sonst kann ich bald einpa …«
»Was haben Sie da gesagt?«, fiel Fee ihr ins Wort.
Rita Görner schluckte das Ende des Satzes hinunter. Ohne Luft zu holen, begann sie den nächsten.
»Was meinen Sie? Das mit dem Schild?« Sie deutete auf das rechteckige Warnschild, das einem Leuchtturm gleich ein paar Meter entfernt in die Höhe ragte.
Doch Felicitas‘ Augen folgte ihrem Fingerzeig nicht.
»Ich meinte das mit Lammers.«
Rita seufzte. Sie zog ein Taschentuch aus der Kitteltasche und putzte sich die Nase.
»So was kann doch mal passieren. Ich meine, dass man nach dem Putzen vergisst, eine Schachtel zurück auf den Schreibtisch zu stellen. Dabei hätte ich es eigentlich wissen müssen. Ihr Ärzte habt es ja immer eilig und überseht … Aber was machen Sie denn?« Fee hatte Frau Görner kurzerhand den Wischmopp aus der Hand genommen. Sie legte den Arm um ihre Schultern und ging los. Rita stolperte neben ihr her. »Was haben Sie vor?«
»Liebe Frau Görner, Sie wissen gar nicht, was für einen Gefallen Sie mir gerade getan haben.« Fees Gesicht strahlte wie die Sonne persönlich. Vergessen waren Schmerz und nasse Hose. »Hätten Sie die Güte, das noch einmal vor Herrn Lammers zu wiederholen?«
»Aber … aber … wenn ich das tue, bin ich meinen Job …«
»Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass Sie nichts zu befürchten habe. Weder von meinem Kollegen noch von Ihrer Firma. Darum werde ich mich persönlich kümmern.«
Ritas Stirn glättete sich. Ihr Schritt wurde sicherer.
»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich gleich was gesagt.«
»Schon gut. Es reicht, dass ich es jetzt erfahren habe.« Am liebsten wäre Fee über den Flur getanzt. Nur ihr gefühlt hundertjähriges Steißbein hinderte sie daran.
*
Erst nach der Besprechung fand Matthias Weigand Zeit, sich die Blutwerte von Frau Berger vorzunehmen. Eine ganze Weile saß er vor dem Tablett und wischte von Tabelle zu Tabelle. Plötzlich stutzte er, wischte zurück und wieder vor.
»Was hat denn das zu bedeuten?« Um ganz sicher zu gehen, dass nicht die Gedanken an Sophie für eine Wahrnehmungsstörung verantwortlich waren, überprüfte er die Informationen ein zweites und auch noch ein drittes Mal. Doch hier stand es schwarz auf weiß! Matthias erhob sich, holte tief Luft und machte sich auf den Weg.
Ein regelmäßiges Piepen war das einzige Geräusch im Krankenzimmer, das das Keuchen übertönte. Rosa Berger lag im Bett. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Doch Dr. Weigand ließ sich nicht täuschen. Er hielt sein Tablet in der Hand.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er mit einem Blick auf den Geräteturm neben dem Bett.
Von Rosas unverletztem Arm, ihrem Finger und Handgelenk führten mehrere Schläuche und Kabel weg.
Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur und andere Vitalwerte blinkten auf den Displays der übereinandergestapelten Messgeräte.
»Wie ein junges Reh«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Ein unsichtbarer Felsbrocken auf ihrer Brust machte ihr das Atmen schwer.
»Sie sind eine schlechte Lügnerin.« Er zog einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Wie wäre es, wenn Sie mir zur Abwechslung einmal die Wahrheit sagen?«
Sie hob den Kopf, schielte hinab auf die beiden Schläuche in ihren Nasenlöchern, sah zu Matthias hinüber und legte den Kopf zurück auf das Kopfkissen.