Sie überlegte, zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Und wenn nicht?«
»Na, dann gehst du eben schön nach Hause!«
Die Autokolonne kam zum Stehen, er wollte nach rechts, in Richtung Oberkassel einbiegen, da legte sie ihm beschwörend die Hand auf den Arm.
»Halt, James, noch nicht! Einen Augenblick! Wäre es nicht viel praktischer, wenn ich mit zu dir käme!?«
Er schaute sie unter seinen langen, dichten Wimpern hervor von der Seite an, der Blick seiner dunkelblauen Augen war ausdruckslos. »Praktischer schon«, sagte er gleichgültig, »ich hätte dir selber schon den Vorschlag gemacht …«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
Er zuckte die Achseln, betätigte den linken Blinker. »Ich dachte, du wärst von der altmodischen Art, könntest es falsch auffassen.«
»Ich bin doch nicht blöd.«
»Das merke ich!« Er gab Gas, es gelang ihm gerade noch im letzten Moment die Alleestraße zu überqueren, er bog nach links ein, sie fuhren in Richtung auf die Innenstadt …
James Mann wohnte im siebten Stock eines großen, modernen Appartementhauses am Brehmplatz. Sie fuhren im Lift nach oben, er schloß die Türe auf, während Martina hinter ihm wartete. »Ich darf doch vorgehen«, sagte er, half ihr aus dem Mantel, ging weiter in den sehr großen Hauptraum, knipste die Stehlampe und die Schreibtischlampe an.
Sie blieb beeindruckt auf der Schwelle stehen. »Das ist ja eine Wucht!«
Das Zimmer war äußerst komfortabel eingerichtet. Eine richtige Junggesellenwohnung mit einer riesigen Couch, die mit Bergen von bunten Seidenkissen bedeckt war, mit modernen schwarzen Ledersesseln, einem langen gläsernen Tisch, einem einzigen überdimensionalen, abstrakten und sehr farbenfreudigen Gemälde an der Wand.
»Freut mich, daß es dir gefällt«, sagte er.
»Gefallen ist gar kein Ausdruck.«
»Mach’s dir bequem.« Er stellte den Plattenspieler an, und Sekunden später rieselte aus der Stereoanlage der seidenweiche Sound der Ray Anderson Band auf Martina herab.
Sie kuschelte sich in einen der Sessel, zog die Beine an. Sie wirkte sehr süß in dem ärmellosen sonnengelben Tangentenkleid, das unter dem Regenmantel zum Vorschein gekommen war. Aber er schien es nicht zu bemerken. Sein dunkles Gesicht zeigte einen abwesenden und verschlossenen Ausdruck. Er mischte an der Hausbar einen Whisky mit Eis und viel Wasser für sie, einen Whisky pur für sich selber.
»Einen Long Drink für dich«, sagte er, als er das Glas vor sie hinstellte, »du kannst ihn ruhig trinken, ich habe ihn ganz dünn gemacht.«
»Hältst du mich für ein Baby?«
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Eigentlich nicht.« Er wandte sich ab. »Entschuldige, wenn ich mich einen Augenblick mit meinem Papierkram befasse.« Er nahm einen Aktenhefter vom Schreibtisch, streckte sich auf der Couch aus, viele Kissen im Rücken, die Beine halb angezogen, das Whiskyglas griffbereit neben sich auf dem Tisch.
Er sprach kein einziges Wort mit ihr, ließ die Atmosphäre des Zimmers, den Alkohol, die stimulierende Musik und Martinas eigene Ungeduld wirken. Es dauerte gut zehn Minuten, dann hielt sie es nicht mehr aus.
»James …?«
»Hm …«, murmelte er.
»James, bitte, mußt du denn unbedingt dieses blöde Zeug jetzt lesen?« Sie stand auf, setzte sich, ihr Glas in der Hand, neben ihn auf die Couch.
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Mit mir sprechen.«
Er ließ den Hefter sinken, sah sie an. »Fällt dir nichts Besseres ein?«
Sie errötete unter seinem Blick. »Nein, was denn?«
»Nun, zum Beispiel …« Er legte den Hefter neben sich auf den Boden, nahm ihr das Glas aus der Hand, stellte es auf den Tisch. »Du hast mir heute noch gar keinen Kuß gegeben. War das Absicht?«
»Aber nein … ich …«
Er zog sie an sich, so daß sie fast auf ihm lag. Er küßte sie berechnend, beobachtete unter den dichten Wimpern hervor, wie sie die Augen schloß. Seine Hand tastete zu ihrem Rücken, zog an dem langen Reißverschluß ihres sonnengelben Kleides.
Sie stemmte ihre Hände gegen seine Brust, bog ihr Gesicht zur Seite. »Nein … bitte, nein!«
»Also doch altmodisch?«
»James, bitte, ich …«, stammelte sie.
»Nun behaupte bloß, daß ich der erste bin«, sagte er verächtlich.
»Das ist doch schließlich keine Schande!«
»Das nicht gerade, aber reichlich unbequem. Barer Unsinn. Wie alt bist du?«
»Sechzehn«, murmelte sie verwirrt.
»Dann wird’s aber Zeit für dich, das rate ich dir im guten. Wenn du jetzt niemanden findest, der sich deiner annimmt, hast du den Anschluß verpaßt.«
»Das glaube ich nicht!« begehrte sie auf.
»Warum auch. Denk, was du willst. Ich habe es nur gut mit dir gemeint, später einmal wirst du das schon einsehen. Aber wer nicht will, der hat schon gehabt. Aber dann laß mich auch in Ruhe und setz dich schön wieder auf dein Plätzchen. Für Teenagerspielereien bin ich nicht mehr jung genug.«
Sie richtete sich auf, ihre blonden Haare waren zerzaust, ihre Wangen glühten. »Bist du jetzt böse?« fragte sie zaghaft.
»Woher denn. Ich hätte wissen sollen, daß du in der Beziehung etwas zurückgeblieben bist. Ich hätte mich gar nicht erst mit dir einlassen sollen. Aber du gefielst mir eben.«
»Soll das heißen, es ist aus zwischen uns?«
»Was erwartest du denn? Bildest du dir ein, ein Mann wie ich könnte sich mit Händchenhalten und Wange-an-Wange-Tanzen begnügen? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Tut mir leid, daß ich dich jetzt nicht nach Hause bringen kann, du weißt doch …«
Sie sah all ihre Felle davonschwimmen, die Knie wurden ihr weich. »Oh, James«, flüsterte sie, »begreifst du denn nicht? Ich … ich will ja. Aber ich habe Angst …«
3.
Die Zeiten, da Helmuth Molitor noch hinter dem Schalter seiner Bank in der Innenstadt saß, waren seit Jahren vorüber. Jetzt arbeitete er in einer Bankfiliale in Düsseldorf-Oberkassel, dem Vorort, in dem er wohnte, hatte ein geräumiges, fast elegant eingerichtetes Büro zur Verfügung – viel Teakholz, ein dicker roter Spannteppich, ein großes Fenster und zwei Ölgemälde – und beschäftigte sich vorwiegend mit der Betreuung und Beratung der wichtigen Kunden.
Es war gar nichts Ungewöhnliches, daß eines Morgens seine Sekretärin, eine Visitenkarte in der Hand, zu ihm hereinkam und ihm meldete, daß ein Herr ihn zu sprechen wünsche. »Ein Herr Schmitz …«, sagte sie.
Er zuckte zusammen. So häufig der Name Schmitz auch im Rheinland ist, nie konnte er ihn hören, ohne daran erinnert zu werden, was vor jetzt fast zwanzig Jahren geschehen war, und daß seine Sekretärin »Ein Herr …« sagte, verriet ihm, daß es sich nicht um einen Kunden des Hauses handelte, denn sonst hätte sie sich präziser ausgedrückt.
Sie hielt ihm die Visitenkarte so hin, daß er sie lesen konnte: U.O.C. Hannes Schmitz, Repräsentant der U.O.C. Er nahm ihr die Karte nicht ab, denn er wollte nicht, daß sie sah, wie seine Hände zitterten.
Hannes Schmitz, nein, das konnte kein Zufall mehr sein, oder doch? Schließlich war auch Hannes kein so ausgefallener Name. »Wahrscheinlich