Der graue Herr. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507377
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mich seit Monaten, der Staatsanwalt habe den Kopf der Schuldigen verlangt! Weiss Gott — mir wäre lieber gewesen, ich hätte mildernde Umstände für die Angeklagte beantragen und sie vor dem letzten Gang bewahren können! Aber wo wir, dank ihr, überhaupt keine näheren Umstände der Tat kennen, konnten wir beim besten Willen auch keine mildernden Umstände der Tat kennen und in das Urteil einsetzen. Wir mussten uns also an die Tatsachen allein halten: Ja oder nein? Schuldig oder nicht? Leben oder Tod? Es gibt keine Abschwächung. Keine Erklärung. Es gibt nur den Buchstaben des Gesetzes. Das ist die Zwangslage, in die Margot Sandner selbst aus freiem Willen damals mich und die Geschworenen und den Gerichtshof versetzte, und jetzt, bei der Frage der Begnadigung, Sie, Herr Staatspräsident, bringt!“

      „ES ist, als ob sie sterben wollte!“ sagte der alte Herr mit seiner leisen, seltsam hellen Stimme. „Darf man einem Menschen von Staats wegen behilflich sein, der Selbstmord begehen will?“

      „Ja!“ versetzte ich fest. „Wenn dieser Mensch seine Tat sühnen und sich selber richten will — aus Gründen, die nur Gott und er kennen!“

      Der ergraute kleine Würdenträger sah mich durch die Brillengläser aus seinen grossen, dunklen Augen an, die, wenn auch alterstrübe, doch noch seine geistige Bedeutung verrieten.

      „Das ist Ihr Standpunkt!“ sprach er langsam. „Audiatur et altera pars!“ Ich höre da draussen die stürmische Stimme des Verteidigers. Wir kennen sein Ungestüm.“ Und zu dem einen Spalt der Tür öffnenden Diener: „Lassen Sie Herrn Doktor Morell nur gleich herein!“

      3.

      Noch eine Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

      Der Rechtsanwalt Morell stürzte herein. Stürzen war das rechte Wort. Er ging nicht wie andere. Er war immer der Läufer von Marathon, von einem rastlosen Temperament getrieben, auch drüben im Justizpalast, in flatternder Robe über Gänge und Treppen, von einem Verhandlungszimmer in das andere, einen unbändigen Ehrgeiz als Schrittmacher im Genick. Er war, mit kaum fünfundzwanzig Jahren, schon einer der gesuchtesten Verteidiger. Aber man sah es ihm an: das war nur der Anfang! Er, Paul Morell, musste der exste Rechtsanwalt der Stadt werden. Geheimer Justizrat, Millionär. Was weiss ich...

      Er passte in unsere nordische Stadt wie die Faust aufs Auge. Schon nach seinem Äussern. Ein südlicher Mensch. Ein Mittelmeermensch. Darauf deutete dieses krause, dichte, schwarze Haar, die starken schwarzen Brauen über den feurigen, dunklen Augen, der kleine schwarze Schnurrbart, unter dem beim Lachen die weissen Zähne blinkten, das ewig bewegte Mienenspiel seines bräunlichen, ausdrucksvollen Gesichts. Dabei war er aber ein rechter Sohn unserer guten Stadt, einem ehrbaren, seit Jahrhunderten in ihr ansässigen Patriziergeschlecht entsprossen. Das südliche Blut — das musste irgendwie durch Heirat einmal in die Familie gekommen sein.

      Der Rechtsanwalt Morell und ich standen uns wie Katz’ und Hund. Wir kreuzten oft genug vor Gericht die Klingen, und ich muss gestehen: Er machte es einem nicht gerade leicht! Nicht, als ob sein juristisches Wissen so profund gewesen wäre! Im Gegenteil: Morell litt bei seinem unruhigen Geist oft unter einer gewissen Oberflächlichkeit! Auch nicht, als ob die Logik seiner Ausführungen immer entwaffnete! Er setzte sich, wenn es nicht anders ging, mit kühnem Gedankensprung über unbequeme Zusammenhänge hinweg! Aber er war der geborene hinreissende forensische Redner. Als solcher feierte er Triumphe. Die Worte ballten sich ihm wie durch Naturgewalt auf den Lippen. Er besass das grosse Geheimnis eines Demosthenes: er glaubte in dem Augenblick, in dem er sprach, felsenfest selber an das, was er sagte, und darum glaubten ihm, zu meinem Kummer, auch oft genug die Geschworenen.

      Hier, ausserhalb der gerichtlichen Arena, waren wir zwei gute Bekannte. Ich bot ihm die Hand. Er drückte sie flüchtig, fast ohne hinzusehen. Er beachtete mich kaum. Er wandte sich an den Staatspräsidenten. Der ganze Mensch war Feuer und Flamme. Er bebte von jenem, mir nur zu gut als seine Spezialität bekannten heiligen Zorn, den er oft genug vor Gericht im Interesse seiner Klienten ins Treffen führte. Aber so völlig ausser Fassung hatte ich diesen nervösen Mann doch noch nie gesehen.

      „Ein Justizmord — Herr Staatspräsident!“ rief er, ohne eine Frage abzuwarten, und wiederholte es in einem erstickten und darum wirkungsvollen Pathos. „Ein Justizmord, Herr Präsident! Sie haben in Ihren ehrwürdigen Jahren das biblische Alter überschritten. Ihre vorbildliche Gottesfurcht ist bekannt. Sie können die Spanne Zeit ermessen, in der Sie vor einem höheren Richter stehen werden, als es die waren, vor denen Margot Sandner stand...“

      Das waren wieder seine Phrasen aus dem Gerichtssaal. Ich kannte das. Aber er wirkte doch wieder durch eine leidenschaftliche Überzeugungskraft, die in seiner Sprache, seinen Bewegungen, seinem ganzen Wesen mitschwang.

      „Herr Präsident!“ fuhr er atemlos fort. „Können Sie sich die Auffassung dieses Mannes hier — Verzeihung: des Herrn Ersten Staatsanwalts hier — zu eigen machen? Ich sehe an seinem Gesicht, was er denkt! Ich weiss, was er Ihnen gesagt hat! Es ist sein Beruf, immer nur das Schlechte — das Entartete — das Niedrige im Menschen zu sehen! Aber eben dadurch kommen, durch Menschenirrtum, die Justizmorde zustande!“

      „Ich protestiere gegen diesen Ausdruck! “ rief ich. „Das Gericht hat zu Recht erkannt!“

      „Auch ich möchte Verwahrung einlegen!“ sprach Dr. Nöldechen leise, aber bestimmt.

      „Ich bitte um Verzeihung! Ich nehme die Wendung zurück. Entschuldigen Sie sie mit dem Eifer des Verteidigers, der im letzten Augenblick ein Leben, das ihm anvertraut ist, retten will! Herr Präsident — es lastet eine furchtbare Verantwortung auf Ihnen...“

      „Dessen bin ich mir bewusst!“ sagte der alte Herr vor sich hin.

      „Lassen Sie sich nicht von dem Mann zu Ihrer Rechten, der die Seelenlosigkeit des toten Buchstabens vertritt, zu einem Entschluss drängen, der...“

      Ich hob abwehrend die Hand.

      „Ich habe lediglich auf Befragen nach bestem Wissen meiner Überzeugung Ausdruck gegeben, dass Frau Sandners Verurteilung nach ihrem Geständnis eine Selbstverständlichkeit war!“ sagte ich. „Ob nachträglich Gnade für Recht ergehen soll — das zu entscheiden steht nicht bei mir. Als Mensch habe ich nichts dagegen!“

      „Und es muss Gnade ergehen, Herr Präsident!“ Dr. Paul Morell dämpfte plötzlich seine schmiegsame und biegsame Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern, das mir aus vielen seiner Plaidoyers nicht fremd war: „Meine Klientin hat allerdings mit einem einzigen knappen Satz ihre Schuld gestanden! Aber was eigentlich in jener Villa in der Nacht geschah, davon haben wir trotz dieses angeblichen Geständnisses keine Ahnung!“

      „Sie schweigt!“ Der Staatspräsident Nöldechen nickte und wiederholte in tiefem Sinnen, mehr für sich als für unsere Ohren: „Das ist es... sie schweigt!“

      Und Morell, seinen Vorteil erkennend, weiter:

      „Herr Präsident: Soll man deswegen einen Menschen für immer stumm machen, weil er nicht spricht?“

      „Auch nicht zu Ihnen spricht?“ rief ich.

      Der Rechtsanwalt Morell wandte sich zu mir. Zum erstenmal sah ich eine gewisse Mutlosigkeit und Ratlosigkeit in seinen heissen dunklen Augen. Er zuckte erbittert die Achseln.

      „Was soll ich tun?“ sagte er. „So schwer hat es mir allerdings noch nie ein Klient gemacht. Aber ich war doch mit dem armen Sandner so dick befreundet, ich verkehrte doch soviel in dem Sandnerschen Haus — gerade weil auch meine bessere Hälfte und die Margot Sandner von klein auf ein Herz und eine Seele waren und schon zusammen in die Schule gegangen sind...“

      „Meine Frau auch!“ sagte ich.

      „Eben! Das ist ja alles derselbe Jahrgang. Das hängt alles zusammen. Deswegen war es meine Gewissenspflicht, als das Unglück geschehen war, mich Frau Sandner als Verteidiger zur Verfügung zu stellen! Sie nahm es ja auch sofort an. Irgendeinen Verteidiger musste sie ja haben, und ich als Freund des Hauses konnte ihr doch ganz anders zur Seite stehen als irgendein wildfremder, womöglich vom Gericht bestellter Herr in schwarzer Robe. Aber ins Vertrauen gezogen — das muss ich leider Gottes ehrlich gestehen und habe es schon in der Verhandlung