Der Rote Sturm: aus den Erinnerung von Jenny M. Lind. Stig Ericson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stig Ericson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711462447
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woher er sie bekam. Er liebte diese Waffen fast so sehr wie seinen Garten. Wir hatten sicher zehn Gewehre im Haus.

      Er räusperte sich und spuckte auf den Boden. Dann war es einen Moment still. Ich wußte, daß er mich anschaute und vermutlich mit dem Daumen an der Kante einer Feile entlangstrich.

      Er war mit dem Einspänner gekommen, und der Blick bedeutete, daß ich hinausgehen und mich um Blackie, das Pferd, kümmern sollte.

      Ich aber schaute starrsinnig in den Topf. Ich wollte Vaters Blick nicht begegnen. Ich hörte, wie er die Feile an seinem Daumennagel prüfte.

      Dann sagte er: „Sie haben sie jetzt gefunden.“

      Der Maisbrei blubberte graugelb. Die schwarzen Pfannen hingen unbeweglich unter dem Brett an der fettigen Wand. Der Herd stand da, wo er immer stand.

      Nichts änderte sich.

      Vater fing an zu feilen.

      „Bei der alten Furt“, sagte er in seinem gebrochenen Englisch. „Unter dem Indianerbaum. Sie war wohl nicht mehr ganz so schön. Die Vögel. Und die Hitze...“

      Ich sah Bilder, die ich nicht sehen wollte, und dachte Gedanken, die ich nicht denken wollte. Die Worte drangen wie dünne Messer in mich ein. Aber der Schmerz kam noch nicht, ich merkte nur die dumpfen Stöße.

      Ich wußte, daß er von Mrs. Ryan sprach.

      „Ach so.“

      Mehr sagte Mutter nicht von ihrem Platz aus, wo sie über einem kaputten Kleidungsstück saß. Die Stimme war dunkel und müde. Verbraucht von jahrelangem Geschimpfe mit uns Kindern, gerade eben mit mir.

      „Jenny!“

      Vaters auffordernde Stimme war ebenso rauh wie die sandigen Bodenbretter an der Tür.

      Ich hob den Topf an und stellte ihn neben der runden Öffnung des Herdes ab, langsam und vorsichtig, wie um etwas nicht zu zerbrechen, was schon angeschlagen und brüchig war.

      „Der Brei ist fertig.“

      Ich bemühte mich, meine Stimme ausdruckslos klingen zu lassen.

      Mir nichts anmerken zu lassen. Zu sein wie immer.

      Das war in diesem Moment unendlich wichtig für mich.

      Ich ging zum Pferd hinaus.

      Später stand ich im Gehege. Ich hatte die Arme über Blackies Rücken gelegt und die Stirn in sein Fell. Ich stand oft so da, wenn ich ihn abgesattelt hatte, vielleicht, um die Nähe zu einem anderen lebendigen Wesen zu spüren.

      Die Gedanken drehten sich in meinem Kopf, und ich sah vor meinem geistigen Auge Bilder von Mrs. Ryan:

      ...sie stand im Schulhaus vorne und schrieb Buchstaben an die Tafel, sie hatte ihr rotes Kleid an, und wenn sie den Arm hob, sah man die blanken Schuhe mit den Knöpfen an der Seite...

      sie reichte mir ihre Bibel und lächelte mich an und ihre Zähne waren ebenmäßig und weiß...

      das aufgewühlte Gesicht im Türspalt; der Ausdruck, den ich nicht verstand; der glänzende Blick, der mir Angst machte...

      In meiner Phantasie sah ich sie ins Wasser gehen. Es war in der Dämmerung, unterhalb des weißen Hauses, und sie drängte sich durch die Büsche, wo ich vor ein paar Tagen die rotgeflügelten Drosseln gesehen hatte, die Vögel flogen kreischend auf, und sie ging immer weiter und weiter ins Wasser hinaus...

      Mrs. Ryan hatte sich das Leben genommen. Warum? Ich konnte es nicht fassen. Sie, die doch alles hatte, wovon ich kaum zu träumen wagte.

      Warum hatte sie mir das angetan?

      Auch diesen Gedanken hatte ich – daß sie ausgerechnet mich verlassen hatte.

      „Paß auf dich auf, kleine Miss Jenny Lind.“

      Ich versuchte, die letzten Worte meiner toten Lehrerin an mich auszusprechen, aber meine Zunge war dick und mein Mund trocken, und Blackie hob den Kopf und machte ein paar Schritte vorwärts.

      Wenn ich nur weinen gekonnt hätte.

      Ich ging aus dem Gehege.

      Ich hatte Schuhe an, obwohl es mitten im Sommer war, ein paar ausgetretene Männerschuhe, die so groß waren, daß man ein Ei hinter die Ferse hätte stopfen können. Vielleicht hatte ich eine Wunde auf der Sohle, ich weiß es nicht mehr.

      Ich weiß nur, daß ich den einen Schuh auszog und gegen die Stallwand schlug. Ich schlug und schlug... und als ich dann wieder zum Haus gehen wollte, merkte ich, daß der Absatz abgegangen war.

      Ich kroch lange im Sand umher, bis ich ihn wiederfand.

      Und dann überlegte ich mir, wie ich ihn wieder festnageln würde.

      Ich konnte geschickt mit Werkzeug umgehen, genau wie Vater.

      Mutter stand vor dem Haus. Ihre helle Schürze leuchtete im Dunkel. Sie lehnte sich an den einen Pferdepflock. Ich ging zu ihr, und wir standen nahe beieinander, ohne etwas zu sagen. Es war ein stickiger Abend. Der Südwestwind war gekommen, man spürte jetzt schon, daß es ein trockener und heißer Spätsommer werden würde.

      Dann sagte Mutter:

      „Sie hat es jetzt besser. Da oben.“

      Ich stand da und schaute in den noch gelbweißen Himmel weit hinten im Westen, und vielleicht fragte ich mich, warum es dort hinten noch so hell war, wenn alles um mich herum dunkel wurde...

      Ich hörte wie Mutter seufzte und sagte:

      „Man wünscht sich fast, daß...“

      Sie sprach sehr leise, halb zu sich selbst, und dann verstummte sie und zog mich zu sich. Erst wehrte ich mich dagegen. Seit diesem Sommer hatte ich mich von Mutter abgewandt. Ich ärgerte mich immer mehr über ihre Unterwürfigkeit, ihr Unvermögen, gegen Vaters Einfälle und Launen Widerstand zu leisten. Sie machte mir Angst. Ich wollte nicht werden wie sie: so verbraucht, so abgeschafft, so vergrämt.

      Aber an diesem Abend war es anders, und ich ahnte, daß sie etwas verstand, oder beinahe verstand, und ich streichelte ihren dünnen, harten Körper.

      Wir standen lange so da, und sie sagte mehrmals:

      „Ach, Jenny, meine Kleine.“

      Aus dem Haus hörte man Vaters Feilen. Man spürte das Geräusch bis unter die Kniescheiben.

      Es war, als ob der Tod vorüberfuhr

      Auf der nordwestlichen Seite eines hohen Hügels zwischen unserem Haus und dem Fluß hatte der Wind eine große Grube in den Sand geweht. In der hügeligen Landschaft rund um Bluewater gab es viele solcher Gruben. Wir nannten sie Ausblasungen, und die, an die ich denke, war besonders tief und groß.

      Hier hatte ich meinen „Allein-Sein-Ort“, den ich mit Klauen und Zähnen gegen meinen Bruder Daniel oder irgendwelche anderen Kinder aus der Gegend, die herkamen und mich störten, verteidigte.

      Das Schönste für mich war, da zu sitzen, das Kinn auf die Knie gestützt, meine Körpergerüche einzuatmen und den feinen, graugelben Sand durch die Finger rieseln und die Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen...

      Am Rand der Grube wuchsen sehr kleine gelbe Blumen, deren zusammengerollte Kronblätter in der schrägen Abendsonne wie kleine Laternen leuchteten.

      Ich nannte sie für mich „Laternchen“.

      Hoch oben auf den Hügeln war der Sand dunkel, fast schwarz. Man erzählte, daß die Indianer dort oben vor langer Zeit ihre Signalfeuer angezündet hatten.

      Einer der merkwüdigsten und schrecklichsten Abende dieses Sommers begann damit, daß ich in meiner Grube saß.

      Es war ein paar Wochen nach Mrs. Ryans Tod. Meine kleinen Geschwister schliefen, Daniel war bei den Hühnern, Mutter butterte und Vater war unterwegs auf einem seiner Lokalisierungsausflüge.

      Lokalisierung bedeutete, daß er einem Neuankömmling half,