Sturm über Bluewater. Stig Ericson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stig Ericson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711462430
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Bluewater. Und er hatte jede Menge Briefe an die Behörden geschrieben, um die Erlaubnis zu bekommen, ein Postamt zu eröffnen. Ich erinnere mich an das Kratzen der Feder und an Mutters unruhige Augen. Es mußte totenstill im Haus sein, wenn Vater schrieb: Weh dem Kind, das es wagte, den Mund aufzumachen. Und wenn Vater die Erlaubnis bekommen würde, die Post zu verwalten, hätte er auch die Möglichkeit, den neuen Ort zu taufen. Lindsdorf.

      Warum nicht?

      Ich glaube nicht, daß jemand etwas dagegen gehabt hätte.

      Wir Schulkinder wurden hinausgeschickt, und dann waren die Männer allein mit Mrs. Ryan. Nach einer Weile kamen sie heraus. Mrs. Ryan hatte rote Flecken auf den Wangen. Vater kam zu mir und sagte: „So, Jenny, so wird es also gemacht.“

      Er schaute mich wieder so an, schwer, grau, aus halbgeschlossenen Augen. Und dann setzten die Männer sich in den Wagen und rollten davon.

      Mrs. Ryan schaute mich nicht an, als sie alles erklärte: Wir wüßten ja alle, wie eng es im Schulhaus war, und jetzt hatte eine neue Familie sich ganz in der Nähe niedergelassen, eine Familie mit vielen Kindern. Es gab ganz einfach nicht genug Platz für alle, und deswegen konnte sie diejenigen, die es am weitesten hatten, nicht mehr aufnehmen. Es tat ihr so schrecklich, schrecklich leid, aber es war ja am praktischsten so, und man konnte das Haus auch nicht vergrößern. Im Herbst vielleicht ... Diejenigen, die es am weitesten hatten – das waren ich und mein Bruder Daniel.

      Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, die Tafel und die anderen Sachen in der Felltasche zu verstauen und wegzukommen. Ich weiß nur, daß ich so weinte, daß ich mich in den weichen Schnee setzen mußte, und mich vorbeugte, damit ich nicht erstickte.

      Mein Bruder Daniel versuchte, mich zu trösten.

      Daniel war vier Jahre jünger als ich. Er war klein und krummbeinig und hatte Mutters hellbraune, milde Augen. Er war bestimmt nicht sehr traurig: Er würde wieder mehr Zeit haben, hinter den Büschen am Fluß zu sitzen und Katzenfische zu angeln – zumindest dann, wenn Vater nicht zu Hause war.

      Aber das Angeln war meistens nur eine Ausrede, ein Vorwand, um allein sein zu können und über das Wasser zu schauen.

      Er war ein Träumer, mein Bruder, und der netteste Mensch, den es gab. Er war fast zu nett und nachgiebig, wenn das möglich ist.

      Er strich mir hilflos über die Haare und sagte, daß ich nicht traurig sein sollte, daß ich auf jeden Fall „nicht so eine verdammte Lehrerin aus Boston“ werden würde.

      Das waren Vaters Worte. So nannte er alle Frauen, die nicht mit der Erde arbeiteten, ganz egal, von wo sie kamen.

      „Du wirst ganz bestimmt heiraten“, sagte Daniel. „Und einen eigenen Hof bekommen.“

      Das war nun wirklich das Schlimmste, was er in diesem Moment hätte sagen können.

      Ich war vierzehn Jahre alt, ich war kein Kind mehr, ich schaute mich ab und zu im Spiegel an. Der Spiegel war das blanke Blech auf der Innenseite des Deckels einer schwarzen Blechkiste, die Vater aus Schweden mitgebracht hatte. Ich nannte sie die Schweden-Kiste, und ich erinnere mich, daß Vater immer einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck bekam, wenn er sie anschaute.

      Sie schien ihn zu bedrücken. Aber er sagte nichts.

      Ich spiegelte mich im Deckel und tat mir leid. Niemand hatte so strähnige Haare, so ungleiche Zähne, ein so kantiges Gesicht. Niemand war so dünn und mager und knochig, auf jeden Fall kein anderes Mädchen.

      Das Spiegelbild im Deckel zeigte mir auch, wie ich angezogen war. Das Kleid war geflickt und abgetragen, Mutter hatte den Stoff schon mehrmals gewendet, und wenn ich nicht barfuß war, trampelte ich in alten Männerschuhen umher. Sie waren so groß, daß ein Ei hinter die Ferse gepaßt hätte. Kein Mann würde sich jemals nach mir umdrehen, und das war mir gerade recht.

      Es gab nämlich tiefere Gründe dafür, daß ich nicht ans Heiraten denken wollte.

      Ich wollte nicht werden wie Mutter.

      Ich wollte nicht so unterdrückt werden wie sie, so gebeugt und verbraucht, so voller Sorgen und Not. Und mir wurde schlecht, wenn ich nur an das Allergeheimste dachte, das mußte sie mindestens viermal gemacht haben: Außer Daniel hatte ich noch zwei jüngere Geschwister.

      Nach der letzten Geburt hatte sie außerdem noch zwei Zähne im Unterkiefer verloren. Das Kind hatte den Kalk aus ihrem Körper gezogen, sagte sie, wie immer das auch zugehen mochte. Die wenigen Male, die sie lächelte oder lachte, hielt sie die Hand vor den Mund.

      Ich weiß nicht mehr, was ich zu Daniel sagte, als er mich zu trösten versuchte. Vermutlich sagte ich nichts. Ich war verzweifelt. Ich liebte es, in die Schule zu gehen. Und das hatte viel mit der Sprache zu tun: Der richtigen Sprache – nicht der, die bei uns zu Hause gesprochen wurde.

      Vater behauptete manchmal, er sei der einzige gebildete Mensch am Bluewater, der einzige, der etwas vom Anbau verstand, der einzige, der wirklich kapierte, was eigentlich los war. Aber wenn Mutter fragte, in welche Schule er gegangen war, zog er eine mürrische Grimasse und spuckte auf den Boden.

      „Sie wollten einen feinen Herrn aus mir machen, einen Arschkriecher, aber das ist ihnen nicht gelungen.“

      Mehr sagte er nie.

      Aber auch wenn Vater ein gebildeter Mensch war, so unglaublich das auch klingen mochte, er war auf jeden Fall Schwede – und er sprach schlecht englisch.

      Mutter stammte aus einem Dorf in der Nähe von Bremen in Deutschland und sprach noch schlechter englisch.

      Wenn meine Eltern, was selten genug vorkam, wirklich versuchten, miteinander zu diskutieren, dann taten sie das in einer verkürzten und primitiven Mischsprache, die auch zu meiner Sprache und der meiner Geschwister wurde. Aber die meiste Zeit wurde zu Hause gar nicht gesprochen, und wir hatten selten Gelegenheit, mit anderen Leuten zu reden. Es war weit zwischen den Häusern, und man war immer auf der Hut vor Fremden. Ich wuchs also auf mit einem inneren Schweigen, einer Leere, einer Wortlosigkeit, und um für alle die Gedanken und Gefühle, die mich bedrängten, Ausdruck zu finden, erfand ich eigene Wörter.

      Wenn ich in einer bestimmten Stimmung war, dann fühlte ich mich „muddrig“, ich weiß nicht, woher ich das Wort hatte. Ich pflückte „Gelbblumen“ und „Rotblumen“.

      Ich fluchte und sagte oft auf schwedisch „bitte“, wenn ich um etwas bitten wollte.

      Aber in Mrs. Ryans Schule war diese Leere allmählich mit Wörtern ausgefüllt worden, Wörter, immer neue Wörter. Ich erinnere mich, wie ich die neuen Ausdrücke, die ich gelernt hatte, ausprobierte, wie ich versuchte, so viele Reimwörter wie möglich zu finden. Tuch, Fluch, Buch ...

      So reihte ich Wörter aneinander. Ich lutschte an den neuen Wörtern wie an Kandiszucker oder Eiszapfen, versuchte, sie so oft wie möglich zu verwenden.

      Hat sie das wirklich gemacht? Ist das wirklich wahr? Nein, das hätte ich wirklich nicht gedacht...

      Und es kam natürlich vor, daß die Kinder mich wegen meiner überdeutlichen Aussprache hänselten, oder daß sie mich auslachten, wenn ich in der Aufregung eines meiner selbsterfundenen Wörter benutzte. Aber die meisten Kinder in der Schule waren Neuankömmlinge, ich hielt es also gut aus. Was die Schule betraf, war ich wie Unkraut.

      Ich wollte eine richtige Sprache haben. Ich wollte ordentlich lesen lernen – nicht wie manche Erwachsenen: Sie hielten sich die Zeitung vor die Nase und machten komische Bewegungen mit dem Mund und taten nur so, als ob sie lasen ...

      Ich saß im Schneematsch und heulte, Daniel spielte irgendwo, und dann kam der Wagen zurück. Vater saß nicht mehr drin. Der Mann mit den Zügeln hielt das Pferd an. Ich spürte, wie er mich anschaute.

      „Ist es so schlimm?“ fragte er.

      „Ja, es ist so schlimm“, sagte ich und versteckte meine rotgeweinten Augen in der Armbeuge. „Wirklich und wahrhaftig ...“

      Unerwarteter Besuch

      Einige Tage später hörte man am