Der Untertan – Entwicklungsroman eines Obrigkeitshörigen. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969536247
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Dienst befreit werden musste.

      Unteroffizier Vanselow, der für die Untat seines Einjährigen verantwortlich war, sagte zu Diederich nur: »Das will ein gebildeter Mensch sein!« Er war es gewohnt, dass alles Unheil von den Einjährigen kam. Vanselow schlief in ihrem Mannschaftszimmer hinter einem Verschlag. Nach dem Lichtlöschen zoteten sie, bis der Unteroffizier empört dazwischenschrie: »Das wollen gebildete Leute sein!« Trotz seiner langen Erfahrung erwartete er immer noch von den Einjährigen mehr Geist und gute Haltung als von den anderen Leuten und war immer neu enttäuscht. In Diederich sah er keineswegs den Schlimmsten. Das Bier, das einer zahlte, entschied nicht allein über Vanselows Meinung. Noch mehr sah Vanselow auf den soldatischen Geist freudiger Unterwerfung, und den hatte Diederich. In der Instruktionsstunde konnte man ihn den anderen als Muster vorhalten. Diederich zeigte sich ganz erfüllt von den militärischen Idealen der Tapferkeit und der Ehrliebe. Was die Abzeichen und die Rangordnung betraf, so schien der Sinn dafür ihm angeboren. Vanselow sagte: »Jetzt bin ich der Herr Kommandierende General«, und auf der Stelle benahm Diederich sich, als glaubte er es. Wenn es aber hieß: »Jetzt bin ich ein Mitglied der königlichen Familie«, dann war Diederichs Verhalten so, dass es dem Unteroffizier ein Lächeln des Größenwahns abnötigte.

      Im Privatgespräch in der Kantine eröffnete Diederich seinem Vorgesetzten, dass er vom Soldatenleben begeistert sei. »Das Aufgehen im großen Ganzen!« sagte er. Er wünsche sich nichts auf der Welt, als ganz dabei zu bleiben. Und er war aufrichtig – was aber nicht hinderte, dass er am Nachmittag, bei den Übungen ›im Gelände‹, keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Rücksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. Was half es, dass der Hauptmann, bei seinen Kommandos, sich unsäglich kühn und kriegerisch auf dem Pferd herumsetzte, wenn man selbst, rennend und schnaufend, die Suppe unverdaut im Magen schlenkern fühlte. Die sachliche Begeisterung, zu der Diederich völlig bereit war, musste zurücktreten hinter der persönlichen Not. Der Fuß schmerzte wieder; und Diederich lauschte auf den Schmerz, in der angstvollen, mit Selbstverachtung verbundenen Hoffnung, es möchte schlimmer werden, so schlimm, dass er nicht wieder ›ins Gelände‹ hinaus musste, dass er vielleicht nicht einmal mehr im Kasernenhof üben konnte und dass man genötigt war, ihn zu entlassen!

      Es kam dahin, dass er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanitätsrat war. Er müsse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert für die Armee, für das große Ganze und wäre am liebsten ganz dabei geblieben. Man sei da in einem großartigen Betrieb, ein Teil der Macht sozusagen und wisse immer, was man zu tun habe: das sei ein herrliches Gefühl. Aber der Fuß tue nun einmal weh. »Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, dass er unbrauchbar wird. Schließlich habe ich Mutter und Geschwister zu ernähren.« Der Geheimrat untersuchte ihn. »Neu-Teutonia sei’s Panier«, sagte er. »Ich kenne zufällig Ihren Oberstabsarzt.« Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung.

      Die Hoffnung bewirkte, dass er am nächsten Morgen kaum noch auftreten konnte. Er meldete sich krank. »Wer sind Sie, was belästigen Sie mich?« – und der Stabsarzt maß ihn. »Sie sehen aus wie das Leben, Ihr Bauch ist auch schon kleiner.« Aber Diederich stand stramm und blieb krank; der Vorgesetzte musste sich zu einer Untersuchung herbeilassen. Als er den Fuß zu Gesicht bekam, erklärte er, wenn er sich nicht eine Zigarre anzünde, werde ihm unwohl werden. Trotzdem war nichts zu finden an dem Fuß. Der Stabsarzt stieß ihn entrüstet vom Stuhl. »Macht Dienst, Schluss, abtreten« – und Diederich war erledigt. Mitten im Exerzieren aber schrie er plötzlich auf und fiel um. Er ward ins ›Revier‹ gebracht, den Aufenthalt der Leichterkrankten, wo es nach Volk roch und nichts zu essen gab. Denn die Selbstbeköstigung, die den Einjährigen zustand, war hier nur schwer zu bewerkstelligen, und von den Rationen der anderen bekam er nichts. Vor Hunger meldete er sich gesund. Abgeschnitten von menschlichem Schutz, von allen sittlichen Rechten der bürgerlichen Welt, trug er sein düsteres Geschick; eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wünschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in militärische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders.

      Diederich sollte nur ›vorläufig‹ weiter Dienst machen, das weitere werde sich schon ergeben. »Bei dem Fuß…«

      Einige Tage später trat ein ›Revier‹gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschwärztem Papier einen Abdruck des verhängnisvollen Fußes. Diederich ward genötigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudrücken. »Nicht mal Plattfuß! Stinkt vor Faulheit!« Da aber ward die Tür aufgestoßen, und der Oberstabsarzt, die Mütze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewusster als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Mütze. Der Stabsarzt stutzte, er musste sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialität nicht mehr zuließ. Nun hatte er sie erfasst, nahm die Mütze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuß, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Absätze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen.

      Als der Oberstabsarzt fort war, näherte der Stabsarzt sich Diederich. Höflich, mit einem leisen Lächeln des Einverständnisses, sagte er:

      »Der Fall war natürlich von Anfang an klar. Man musste nur der Leute wegen –. Sie verstehen, die Disziplin –.«

      Diederich bekundete durch Strammstehen, dass er alles verstehe.

      »Aber«, wiederholte der Stabsarzt, »ich habe natürlich gewusst, wie Ihr Fall lag.«

      Diederich dachte: »Wenn du es nicht gewusst hast, jetzt weißt du es.« Laut sagte er:

      »Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?«

      »Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren«, sagte der Stabsarzt und machte kehrt.

      Von schwerem Dienst war Diederich fortan befreit, das ›Gelände‹ sah ihn nicht mehr. Um so williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Mund und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um für Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verhängen: an Diederich fand er nichts auszusetzen. Um so unerbittlicher übte er seine gerechte Strenge an einem Einjährigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen musste, weil er einst, während der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und wäre, wenn er seine Pflicht getan hätte, vielleicht gestorben. Dann wäre er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einjährigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: »Siehst du wohl? Die Neu-Teutonia und ein Geheimer Sanitätsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber…« Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalitäten eines Tages glücklich erfüllt, und der Unteroffizier Vanselow verkündete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Tränen; er drückte Vanselow warm die Hand.

      »Gerade muss mir das passieren, und ich hatte doch« – er schluchzte – »so viel Freudigkeit.«

      Und dann war er ›draußen‹.

      Vier Wochen lang blieb er zu Hause und büffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich musste er sich den Neu-Teutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf.

      »Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem anderen Standpunkt. Ich wäre überhaupt dabei geblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da –«

      Er starrte schmerzlich vor sich hin.

      »Das Unglück mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat