INHALT
FÜR DORIS UND ARTUR MATT
AN DIE JVA KARBECK
Wenn mich jemand nach meinem Vater fragt, fällt mir als Erstes unser Abschied ein. Nicht der letzte, sondern der erste. Das war im Gericht, nach der Verhandlung, als klar war, dass du in den Knast musst. Ich mein, das war irgendwie schon klar, als die Polizei bei uns in den Keller is und die ganzen Pflanzen gesehen hat. Aber bis dahin hab ich dir immer geglaubt, wenn du gesagt hast: „Alles wird gut, Elenie! Versprochen.“
Warum hätt ich dir nich glauben sollen? Ich war noch so klein und hab immer gedacht, mein Papa ist Superman und der Weihnachtsmann zugleich. Nee, ich hab nicht gedacht, dass du fliegen kannst oder heimlich sechs Rentiere in der Garage hast … bin ja nicht voll psycho. Aber du warst unbesiegbar, für mich. Platter Reifen – Papa wechselt ihn – wir müssen nicht mal aussteigen. Feuer in der Küche – Papa löscht, reißt alle Fenster auf und bestellt Pizza. Die Schnittwunde in meinem Daumen – Mama hat gekotzt, aber mein Papa macht Witze über Vampire und einen Verband drüber. Eine Fledermaus hat sich in meinem Kleiderschrank eingenistet – Papa fängt sie ein und lässt sie wieder frei. Mama bricht sich ein Bein – Papa trägt sie wochenlang die Treppen rauf und runter.
Du hast immer alles im Griff gehabt. Bis du plötzlich nichts mehr im Griff hattest. Da war ich acht und hab kapiert, dass du nicht der Weihnachtsmann bist und Superman schon gar nich. Weil im Gericht damals, da warst du besiegt. Das is okay für mich. Heute. Weil jetzt bin ich nicht mehr klein. Ich weiß, dass der Weihnachtsmann erfunden und Superman gezeichnet is. Ich brauch auch keinen Superman mehr. Aber ich glaub, ich brauch meinen Vater. Darum schreib ich dir diesen Brief. Ich hab dich seit drei Jahren nicht mehr um irgendwas gebeten, Papa. Nicht, weil ich drei Jahre nichts gebraucht hab, sondern weil ich gewusst hab, du kannst mir eh nicht helfen. Nur bei der Sache hier, da kann mir niemand helfen außer dir … Ich erzähl dir alles und dann ist es deine Entscheidung. Weil ich will nicht entscheiden müssen, nicht diesmal. Diesmal ist alles, was ich mache, falsch. Alles, was ich mache, tut irgendwem weh. Irgendwem, den ich lieb hab. Mama, Noah, den Haagens, Dante, Karan, Mattis, Lucky, Lilith … Ich will keinem mehr wehtun. Und ich will auch nicht mehr rotsehen.
Worum es geht? Um Geheimnisse. Um verlorene Väter. Um Wunden und um Wunder. Aber ich fang besser am Anfang an. Angefangen hat alles, als ich nach Saaks gekommen bin.
GEFAHR IM VERZUG
Wir hatten einen Deal: dass ich dir jede Woche ’ne Mail schicke und dir erzähl, wie’s mir geht. Meistens hab ich mich dran gehalten. Seit ich hier in Saaks bin, manchmal sogar öfter. Hier ist es
Es ist so … Seit wir ausgezogen sind, Mama und ich, seit der Scheidung … war nie wieder irgendwas so richtig normal, okay? Wir haben da nie drüber geredet. Wie denn auch? Und wo? In dem blöden Besucherraum in der Justizvollzugsanstalt? Mit ’ner Tante vom Jugendamt neben uns, weil Mama mich nich bringen möchte? Ich weiß, du hast versucht, es mir zu erklären. Mama wollt’s mir erklären. Ihr habt’s beide nich gerafft: dass ich eure Geschichten nicht hören will!
Alle erzählen Geschichten, andauernd. Und jeder macht sich in seiner zum Helden. Versteh ich nicht. Kapiert das denn niemand: Wenn du aus dir was machst, was du nicht bist, dann glaubt dir keiner mehr den Rest. Ihr habt echt
Aber nee – mein Vater ruft die Polizei und erzählt denen, meine Mama würd mir nix zu essen geben. Wie alt bist du? Acht? Nee, ich hätt dir auch mit acht sagen können, dass man für