»Komm«, sagte Pablo und zog sie auf den Platz. »Das da vorne ist Senhor Vargas. Den fragen wir.«
Sie blieben vor dem Geiger stehen, der seiner Geige mit geschlossenen Augen wunderbare Töne entlockte. Die Geige weinte, schluchzte und tröstete sich dann selbst mit einer atemberaubend schönen Melodie wie ein Wasserfall, im Hintergrund spielte ein ganzes Orchester und trug ihre Töne: ein Orchester, das nur dazu da war, diese wundervolle Geige zu begleiten.
Dann verstummte das Orchester mit einem kratzenden Geräusch und der Geiger öffnete die Augen und sagte: »Mist, schon wieder hinüber, das Ding.«
Er beugte sich zu dem Transistorradio hinab, aus dem das Orchester gekommen war, doch es ließ sich nicht mehr zum Leben erwecken.
Pablo klatschte und Ximena klatschte mit ihm, aber die anderen Leute, die zugehört hatten, gingen einfach weiter. »Das war sehr schön«, sagte Ximena. »Warum spielen sie nicht dadrinnen? Im Theater?«
Senhor Vargas lachte leise. Er war ein kleiner, hagerer Mann in einem fadenscheinigen schwarzen Anzug und auch seine rote Fliege hatte bessere Zeiten gesehen. »Oh, ich habe dort gespielt, junge Dame«, sagte er. »Ich habe. Es gab eine Zeit, da kannte jeder in Manaus Senhor Vargas, er war der Beste, die erste Geige im Orchester, er war ein Stern am Himmel von Manaus … Aber das ist lange her.« Er seufzte. »Ich war eine Weile weg, und als ich zurückkam, hatten sie mich ersetzt. Die erste Geige ist jetzt eine hübsche junge Frau aus der Familie des Bürgermeisters.«
»Wir wollten eigentlich fragen«, sagte Pablo, »ob Sie von den Studenten gehört haben, die verschwunden sind. Miguel, ein Bekannter von mir, hat mir eine Botschaft geschickt. Und die Leute sagen, da war eine ganze Gruppe von Studenten?«
Senhor Vargas ließ seinen Geigenbogen fallen. Als er ihn wieder aufhob, zitterte der Bogen leicht in seiner Hand. »Oh, verschwundene Studenten? Keine Ahnung«, sagte er. »Nein, wirklich, davon habe ich noch nichts gehört. Bist du sicher, dass sie nicht nur eine Reise machen? Studenten machen Reisen.«
»Sie haben doch was gehört«, sagte Ximena, trat näher zu Senhor Vargas und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre blauen Augen suchten in diesem Gesicht nach der Wahrheit und Senhor Vargas wagte es nicht, ihrem Blick auszuweichen. Pablo sah es.
»Ich … ich habe nur gehört, dass es da eine Gruppe von Studenten gab, die in einem Bus aus der Stadt weggefahren sind«, sagte er schließlich leise. »Das ist ja nichts Besonderes.«
»Warum haben Sie es dann gehört? Und von wem?«
»Von … von … von einer Mutter von einem der Studenten«, murmelte Senhor Vargas. »Sie putzt im Theater. Sie hat gesagt, der Bus würde in den Urwald fahren. Sicher eine Studienreise, aber dass sie sich Sorgen machen würde. Ich weiß nicht, warum …«
»Und der Bus … ist nicht wiedergekommen?«, fragte Pablo.
Der Hund neben ihm japste.
»Doch«, sagte Senhor Vargas. »Der Bus schon. Ein großer roter Reisebus, einige Leute haben ihn gesehen in der Stadt.«
»Und was sagt der Busfahrer? Wo sind die Studenten geblieben?«
»Ach, was weiß ich, vielleicht sind sie ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen.« Senhor Vargas bückte sich und begann, an seinem Transistorradio herumzufummeln. »Wer weiß, wohin die wollten. Das weiß man bei Studenten doch nie, ein verrücktes Volk, alle miteinander. Schwingen große Reden und wollen die Welt ändern und haben keine Ahnung von der Wirklichkeit. So, und jetzt muss ich mich darum kümmern, mein Orchester hier zu reparieren.«
»Aber wenn sie zu Fuß weitergegangen sind, wohin sind sie gegangen?«, fragte Ximena. »Wohin wollten sie?«
Doch Senhor Vargas schien sie nicht zu hören. Er war ganz mit dem Radio beschäftigt und schließlich zog Pablo Ximena weiter.
»Wenn einer nichts sagen will, will er nichts sagen, so ist das«, meinte er. »Komm.«
Vom anderen Ende des Platzes ertönte auch Musik, dort stand ein großer, kantiger Mann mit einem breitkrempigen Strohhut, einem langen weißen Pferdeschwanz und riesigen Händen, mit denen er in der Luft gestikulierte, während er sang. Er sang ein Stück einer Oper und auch ihn begleitete ein Orchester, das aus einem kleinen Lautsprecher drang, den er an ein Telefon angeschlossen hatte.
Der Mann sang mit geschlossenen Augen. Er hatte eine Adlernase und braune wettergegerbte Haut. Er trug ein einfaches, etwas angegrautes Leinenhemd und Jeans. Er war barfuß. »Das ist ein Indio«, sagte Ximena. »Ein Indio, der eine Oper singt? Und er ist so groß! Unsere Wäscherin, unser Gärtner, die Frau, die putzt … die sind alle irgendwie klein und rund.«
Pablo lachte. Es klang, als spräche sie von Murmeln.
»Das ist Tom Weißfeder«, sagte er. »Er kommt aus dem Norden und er hat einmal an der Oper in New York gesungen. Dann haben sie ihn für einen Gastauftritt im Theater Manaus engagiert und er hat eine Reise in den Urwald gemacht, wie viele, die herkommen – und ist dann Jahre später wieder hier aufgetaucht, ohne einen Centavo in der Tasche und völlig abgerissen. Seitdem singt er auf dem Platz. Keiner weiß, was er im Wald getan hat, die fünf Jahre lang. Tom? Hey, Tom, hör doch mal zu!«
Doch Tom sang weiter, mit großen Gesten.
»O mia patria, sì bella e perduta … O membranza, sì cara e fatal«, sang er.
»Er ist blind«, flüsterte Pablo.
»Du musst nicht flüstern, Pablo«, sagte Tom und lachte. »Ich weiß, dass ich blind bin. Wen hast du mitgebracht?«
»Das … das ist Ximena«, murmelte Pablo etwas betreten und sah zu, wie Tom mit seinen Riesenhänden vorsichtig Ximenas Gesicht betastete. »Was für ein hübsches Mädchen«, sagte er. »Und so entschlossen!«
»Das kannst du fühlen?«, fragte Pablo erstaunt.
Tom lachte. »Ihr wollt etwas wissen. Das fühle ich auch.«
Pablo seufzte. »Ja. Miguel ist verschwunden. Du kennst ihn, den Studenten, er hat dir oft zugehört, saß hier auf einer Bank … Da war eine ganze Gruppe von Studenten. Sie sind mit einem roten Reisebus in den Urwald gefahren und sie sind nicht wiedergekommen. Nur der Bus.«
»Ja«, sagte Tom, auf einmal sehr leise, und rückte seinen Hut zurecht. »Das war nicht der Plan. Aber wann läuft schon mal etwas nach Plan? Miguel war ein guter Junge. Er hat es mir erzählt. Wo sie hinwollen. Was sie vorhaben. Ich habe ihm gesagt, es wird schiefgehen. Und dass er es trotzdem tun soll, weil es gut ist.«
»Was denn? Was wollten sie tun?«, fragte Ximena.
Tom ließ sich auf die Steinbank sinken, die hinter ihm stand, und stützte den Kopf in die Hände. »Es war ein schöner Fluss«, sagte er, noch leiser. »So schön. Ganz klar. Und die Fische. Es ist lange her … damals konnte ich noch sehen … Jetzt ist es besser, nichts zu sehen. Die Zerstörung. All die kleinen Tode, die die Fische sterben. Und die Bäume. Größere Tode, natürlich. Riesige. Sie reißen alles mit sich … Aber wir brauchen Strom, sagen sie, womit lädst du dein Telefon, Tom Weißfeder, in dem das